Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Wind. Früher waren seine Haare ganz blond und dünn gewesen, inzwischen aber dunkler und dichter. Und die Augen hinter seiner Brille waren nicht mehr groß wie Walnüsse. Sie sahen jetzt wie normale Augen aus, sehr hübsch und braun, und sie schienen alles zu sehen und zu wissen.
Die Geräusche von unten klangen gedämpft, denn mittlerweile waren sie sehr hoch oben. Stella kam sich wie auf dem Dach der Welt vor, allein mit Mats, nur sie beide, weit entfernt von den hektischen Menschen unten. Sie drehte sich zu Mats und merkte, dass er sie die ganze Zeit ansah. Sie wurde rot und schaute zur Seite. Sie fragte sich, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging.
Genau genommen dachte Mats an sie, an ihre vollen, roten Haare, und wie gern er sein Gesicht darin vergraben würde. Ihm war schwindelig, als würde er gleich aus der Riesenradgondel fallen. Falls das passieren sollte, würde er sich an Stellas Haaren festhalten wie an einem Seil, wieder hochklettern und die Riesenradspeichen vielleicht als Stütze benutzen. So stark und verwegen war ihm zumute, so sehr vertraute er Stella – und ihren Haaren.
Stella wusste, dass Mats’ Augen auf sie gerichtet waren. Bei dem Gedanken wurde ihr innerlich ganz warm, sie kam sich vor wie in einem heißen Jacuzzi. Die Hitze wärmte ihren Bauch und stieg langsam hoch in ihre Brust, wo ihr Herz sich zu einer Kugel geballt hatte und hörbar hämmerte. Sie hatte keine Kontrolle darüber. Es war verrückt.
Stella schaute hinaus und sah, dass sie jetzt fast den Scheitelpunkt des Riesenrads erreicht hatten. Sie drehte sich wieder zu Mats, und alles wurde unheimlich still. Mats’ Augen kamen den ihren immer näher. Oder bewegten sich ihre immer näher zu seinen? Und dann, kurz bevor sie beide beim Immer-näher-Kommen anfingen zu schielen, schlossen sie die Augen und küssten sich.
Mats’ Lippen waren warm und schmeckten ein bisschen salzig vom Popcorn, das er gegessen hatte. Und Stellas, fand Mats, schmeckten süß wie der Geleeapfel, den sie gegessen hatte. Beide Parteien fanden jedenfalls, dass die Lippen des anderen einfach ziemlich gut schmeckten und sich auch so anfühlten.
Als sie mit dem Küssen fertig waren und auftauchten, um ein bisschen Luft zu holen, schaute jeder beiseite, schmeckte kurz die eigenen Lippen, drehte sich dann wieder zurück und fing mit dem Küssen von vorne an. Aber gerade als ihre Lippen zum zweiten Mal aufeinandertrafen, fegte ein jäher Windstoß über sie hinweg und wehte Stellas Hut fort.
«Oh», sagte Stella und fasste sich auf den Kopf. «Mein Hut!»
Der Fedora mit der blauen Seidensatinschleife flog über den Jahrmarkt und begann langsam seinen freien Fall. «Mein Hut!», rief Stella den Leuten weit unten zu. «Mein Hut!» Aber niemand hörte es. Stella war zu weit oben. Und es dauerte nicht lange, da war der Hut außer Sicht. Was nun? Um den Hut konnten sie sich erst kümmern, wenn sie unten waren, deshalb drehten sich die beiden einander wieder zu und küssten sich weiter.
Stella musste gestehen, dass ihr die Folgen des Verlusts erst bewusst wurden, als sie wieder unten waren. Oben im Riesenrad, als sie mit dem Kopf in den Wolken geschwebt, ihr zu einer Kugel geballtes Herz hörbar gehämmert und ihr Mund den von Mats geküsst hatte, hätte sie ewig so bleiben können.
Aber irgendwann landeten sie wieder auf dem Boden.
Stella erkundigte sich überall nach dem Hut. Man sagte ihr, er sei vermutlich im Fundbüro, doch das Fundbüro war anscheinend auch verlustig gegangen und nirgends zu finden. Zwei Stunden lang liefen Stella und Mats händchenhaltend durch die Menge, überprüften die Köpfe der Passanten, Abfallkörbe, Tische und Bänke. Schließlich gaben sie auf. Der Hut war verschwunden, und mit ihm die Schleife, die blaue Seidensatinschleife, angenäht mit dem goldenen Faden ihrer Urururgroßmutter.
«Oh, dear!», sagte Josephine, als Isabel und Stella sie am Abend besuchten. «Oh, dear. Das Erbstück meiner Großmutter. Verschwunden.»
«Oma», sagte Stella, «das Ganze tut mir so leid. Wirklich. Ich wünschte, du hättest mir das Erbstück nie geschenkt.»
Josephine bedachte ihre Enkeltochter mit einem vernichtenden Blick. «Das, meine Liebe, möchte ich nie wieder von dir hören.»
«Aber es ist weg! Für immer. Aus nichts kann man nichts machen!» Stella schaute ihre Mutter Isabel an und erwartete ihre Zustimmung. «Hab ich recht, Mama? Kein Mensch kann aus nichts etwas machen. Genau das sagst du doch immer.»
«Pst», sagte
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