Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Isabel. Sie setzte sich und dachte und dachte, und dann dachte sie noch eine Weile, während Josephine und Stella warteten. «Eigentlich», meinte Isabel schließlich, «kann man aus nichts doch etwas machen.» Sie drehte sich zu Stella. «Wenn du mich fragst, ist noch genügend Stoff da, um eine hübsche, kleine Geschichte daraus zu machen.»
Mehrere Monate später, an Stellas vierzehntem Geburtstag, löste Isabel ihr Versprechen ein. Als Josephine zum Tee kam, überreichte Isabel Stella ein in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen. Innen war ein Buch, das Isabel selbst geschrieben und dann mit dem übriggebliebenen goldenen Faden von Stellas Urururgroßmutter gebunden hatte. Der Umschlag war aus schimmerndem Blau, das wie Seide glänzte. Er war bedruckt mit silbernen Sternen und Schneeflocken. Entlang den vier Kanten war eine Bordüre aus kahlen Bäumen, der Biegung der Newa und den zwiebelförmigen Dächern von St. Petersburg. Das Lesezeichen war aus goldenem Faden.
«Endlich verstehst du es also doch», sagte Josephine zu ihrer Tochter Isabel und umarmte sie.
«Ja, Mama», sagte Isabel, «ich glaube schon.»
Stellas Augen wurden groß vor Staunen, als sie das Buch öffnete. Innen las sie in der Schrift ihrer Mutter: «Für Stella, den goldenen Faden, der unsere Vergangenheit mit unserer Zukunft verbindet.»
Stella blätterte durch die Seiten. Da waren Fotografien von der Familie, sogar einige aus Russland aus der Zeit der Jahrhundertwende, die sie nie gesehen hatte; andere hatte Josephine im Lauf der Jahre aufgenommen: mit dem blauen Seidensatinstoff als Decke, Kleid, Weste, Beutel und Schleife.
«Danke, Mama», sagte Stella. «Es ist wunderschön.» Sie wollte mehr sagen, aber ihre Stimme versagte. Und da ihr die Worte fehlten, umarmte sie ihre Mutter. Hielt sie ganz fest. Wie ein Kind seine Mutter hält, wie ein Taucher seine Rettungsleine. «Lies uns vor», sagte Stella schließlich. «Bitte, lies aus dem Buch vor.»
Sie setzten sich auf das Sofa.
Isabel schlug das Buch auf und fing an zu lesen.
Es lebte einmal ein Mädchen namens Stella Alisa Menzel, das besaß ein ziemlich großes Stück verzauberten Stoffes. Er war aus schimmerndem, blauem Seidensatin, zusammengenäht mit goldenem Faden und übersät mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat …
ENDE
Schreiben und Inspiration –
Anmerkung der Autorin
Viele Leser fragen mich, woher die Ideen für meine Bücher kommen. Eine schwierige Frage, denn ich weiß es nicht genau. Ideen kommen plötzlich und anscheinend wie aus dem Nichts, und meistens auch noch in den seltsamsten Situationen, zum Beispiel wenn ich etwas Banales mache wie Geburtstagsgeschenke einpacken oder die Polenta rühren oder die Wäsche aufhängen. Eine Idee ist wie ein kleines Wunder: Ich bin froh, dass es immer wieder Wunder gibt, aber ich muss nicht unbedingt wissen, woher sie kommen. Doch so viel weiß ich: Alles, was wir erleben, denken, träumen, hoffen, fühlen, lernen und lesen, findet irgendwie seinen Weg in unser Herz, unseren Verstand, unser Innerstes und nistet sich dort ein. Irgendwann kriecht ein Teil davon aus seinem Versteck und erscheint als Idee. Das Kniffelige daran ist, dass wir diese Idee nicht immer als solche erkennen, aber wenn doch, dann müssen wir bereit sein, mit ihr auf die Reise zu gehen.
Dies vorausgeschickt, verrate ich gern, dass die ursprüngliche Anregung für «Stella und der goldene Faden» von einem alten jiddischen Volkslied stammt, das im Laufe der Jahre in immer wieder neuen Versionen gesungen oder erzählt worden ist – auch in amerikanischen Bilderbüchern für Kinder.
Das Lied erzählt folgende Geschichte: Ein armer Schneider in einem osteuropäischen Dorf – meistens heißt er Yusuf oder Josef – besitzt einen Lieblingsmantel, der zerfleddert und zerrissen ist. Seine Frau fleht ihn an, ihn wegzuwerfen und sich einen neuen zu nähen. Aber er weigert sich. Er sagt, er werde daraus etwas anderes machen. «Aus nichts kann man nichts machen!», schimpft seine Frau. Der Schneider bleibt stur und ändert den Mantel in eine Jacke um, die er dann jahrelang trägt … So geht es immer weiter: Das Kleidungsstück wird getragen, bis es auseinanderfällt. Trotz der ständigen Nörgelei seiner Frau schnippelt der Schneider am alten Kleidungsstück herum, bis etwas Neues daraus entsteht. Es wird immer kleiner, irgendwann eine Weste, dann eine Krawatte, ein Taschentuch, ein Knopf, und als der Knopf verlorengeht, kann
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