Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
weinen. Aber je mehr sie sich bemühte, umso mehr tat er weh. Schließlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, heiß und feucht schossen sie ihr die Wangen hinunter. Aus Angst, sie könnte es sich anders überlegen, wieder zurück ins Haus rennen und sich einschließen, küsste Channa ihre Eltern ein letztes Mal und wandte sich dann der Kutsche und ihrer Zukunft zu.
Die Nussbaums winkten lächelnd zum Abschied, als Channa, deren üppige schwarze Locken unter der Pelzmütze hervorquollen, hastig in die Kutsche stieg. Eltern und Tochter wussten nicht, ob sie einander jemals wiedersehen würden, dabei war der Anlass durchaus erfreulich, denn Channa hatte sich in einen schönen jungen Mann verliebt: Reuben Auerbach. Sie wollte nach Berlin, wo Reuben geboren und aufgewachsen war und in der Kleiderfabrik seiner Eltern gutes Geld verdiente.
Channa und Reuben waren sich im vergangenen Sommer begegnet, im Juni 1918 , als Reuben geschäftlich in St. Petersburg unterwegs war. Die Oktoberrevolution von 1917 hatte in Russland alles verändert (bis auf das Wetter natürlich), und die Nussbaums waren froh, dass ihre Tochter die Stadt verlassen würde. Die Revolution war hier stets präsent. Lebensmittel und Brennstoff waren knapp. Und auch wenn die Reise lang und beschwerlich sein würde, waren Mutter und Vater froh, dass Channa bald ein neues, sicheres, vielleicht auch wärmeres Zuhause in Berlin finden würde. Doch Channas Mutter wollte ihrer kleinen Prinzessin eine Erinnerung an die Heimat mitgeben. Und darum saß Galja Nussbaum viele Tage und Nächte lang und stickte ihrer Tochter einen Wandbehang aus schwerem, glänzend blauem Satin.
Ursprünglich hatte Galja ein Abendkleid aus dem Seidenstoff nähen wollen, doch seit der Oktoberrevolution war es gefährlich, etwas Teures, Schönes oder Seltenes zu tragen. Als ihre Tochter Channa ihre Verlobung mit Reuben Auerbach verkündete, wusste Galja sofort, was sie aus dem Stoff machen sollte: Sie würde Channa einen Wandbehang nähen, eine Winterlandschaft, die den Mitternachtshimmel über St. Petersburg zeigte. Er würde Channa immer an ihre Heimat erinnern.
Als Erstes stickte Galja Sterne, Schneeflocken und einen Vollmond aus Silberbrokat auf den Stoff. Entlang der vier Kanten stickte sie eine Bordüre aus kahlen Bäumen, der Biegung des Newa-Flusses und den zwiebelförmigen Dächern von St. Petersburg. Um dem Stoff mehr Gewicht zu verleihen, unterfütterte sie ihn zum Schluss mit blauem Chiffon und nähte die beiden Stoffstücke mit goldenem Faden zusammen, den sie von ihrer Mutter Sonja geerbt hatte. Als Galja fertig war, betrachtete sie ihr Werk und fand, dass es einen hübschen Wandbehang abgäbe, ebenso gut aber als Vorhang oder Tischdecke dienen könnte.
Am Tag vor Channas Abreise schenkte Galja ihrer Tochter den Wandbehang. Channa steckte das wertvolle Geschenk in ihre lederne Reisetasche und verließ die Stadt ihrer Kindheit und Jugend.
Eines Abends –
«Oma?»
Josephine schaute ihre Enkeltochter Stella an. «Ja?»
«Der Wandbehang, den Galja genäht hat, ist Schneestern, oder?»
Josephine drückte ihre Enkeltochter und vergrub die Nase in ihren Locken. «Ja», sagte sie, «aber du musst zuhören. Das war noch nicht alles.»
Stella nickte mit großen Augen.
Viertes Kapitel D er Diebstahl
Eines Abends auf ihrer Reise nach Berlin machte Channa Nussbaum in Danzig halt, um eine alte, geliebte Tante zu besuchen. Während sie bei ihr war, wurde ihre lederne Reisetasche aus dem Hotelzimmer gestohlen. Der blaue Wandbehang aus Satin, den ihre Mutter Galja so liebevoll silberfarben bestickt und mit goldenem Faden zusammengenäht hatte, war verschwunden.
Channa war, als hätte man ihr den Wandbehang aus dem Herzen geraubt und nicht nur aus einem Hotelzimmer. Sollte sie ihrer Mutter von dem Diebstahl schreiben? Das brachte sie nicht über sich. Also verschwieg sie den Verlust in ihren Briefen. Es gab ja auch so viele andere Dinge zu berichten: Sie und Reuben hatten jetzt eine eigene Wohnung in Berlin, und bald erwarteten sie ein Kind.
Zu Beginn des Jahres 1920 kam Maxim auf die Welt. Channas Eltern trafen Vorbereitungen für einen Umzug von Russland nach Berlin. Das Leben in Russland wurde von Tag zu Tag chaotischer, und sie wünschten sich sehnlichst, ihrer Tochter und dem Enkelkind nahe zu sein. Doch während Channa sich in Berlin noch Sorgen machte, wie sie ihrer Mutter den Diebstahl des wunderschönen Wandbehangs beibringen sollte, kam es in St.
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