Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Petersburg zu einer Tragödie: Eine Typhus-Epidemie fegte durch Russland, und Channas Eltern fielen ihr zum Opfer.
Sieben Tage und sieben Nächte trauerte Channa um ihre Eltern. Im frisch eingerichteten Kinderzimmer wiegte sie den kleinen Maxim in den Schlaf und schwankte zwischen der übermächtigen Liebe zu ihrem neugeborenen Sohn und der ohnmächtigen Verzweiflung über den Verlust ihrer Eltern.
Am achten Tag klopfte es bei den Auerbachs an die Tür. Jemand brachte ein Paket aus dem Danzigerhof, dem Hotel, in dem Channa auf dem Weg von St. Petersburg nach Berlin abgestiegen war. Als Channa das Paket öffnete, entdeckte sie ihre lederne Reisetasche. In einem beigefügten Brief teilte man ihr mit, man habe sie in einem Lagerschrank gefunden, vermutlich zurückgelassen vom Räuber. Aus der Tasche war alles verschwunden – Channas Kosmetika und Parfüms, ein Paar Handschuhe, Schuhe zum Wechseln, Geschenke für ihre Schwiegereltern –, alles, bis auf den blauen Wandbehang aus Seidensatin. Da war er, ordentlich zusammengelegt am Boden der Tasche, ein glänzendes Etwas aus Sternen und Schneeflocken, still wie die zugefrorene Newa.
Channa hängte ihn als Vorhang an das Kinderzimmerfenster. Bald darauf kam ihr zweites Kind, Gesa, zur Welt, ein paar Jahre später Leah, und 1930 schließlich Josephine, das Baby, so schwarzhaarig wie seine Mutter. Es verging kein Tag, an dem Channas Kinder ihr nicht ein Lächeln entlockten oder, fast ebenso oft, ein Lachen – aber es verging auch kein Tag, an dem sie nicht in einem Winkel ihres Herzens an ihre Eltern dachte und bedauerte, dass sie ihre Enkelkinder nie gesehen hatten.
«Oma?»
Josephine drehte sich zu ihrer Enkeltochter Stella. «Ja?»
«Bist du die Josephine in der Geschichte?»
Josephine kitzelte ihre Enkeltochter unterm Arm, und sie quiekte vor Vergnügen. «Was meinst du wohl?»
Stella betrachtete das weiche, weißgraue Haar ihrer Großmutter, die kurzgeschorenen Locken. «Vielleicht», sagte sie. «Ja, vielleicht. Vor langer, langer, ganz, ganz langer Zeit.»
Josephine lachte. «
So
lange nun auch wieder nicht. Aber ja, das ist unsere Geschichte – meine, die deiner Mutter und deine. Im Augenblick verstehst du vielleicht noch nicht alles. Aber das kommt noch.»
«Schon gut, schon gut!», sagte Stella ungeduldig. «Erzähl weiter.»
Fünftes Kapitel D unkler Winter in Berlin
Josephine, das jüngste von Channa und Reubens Kindern, war ein stilles, grüblerisches Mädchen, das stundenlang eine Rose anschauen konnte – bis es wegen der einbrechenden Dunkelheit ins Haus musste oder von einer Hornisse verjagt wurde. Sie schlief im Bett gegenüber dem Fenster, vor dem der ehemalige Wandbehang nun als Vorhang hing. Noch fünfundsiebzig Jahre später konnte sie sich daran erinnern, wie ein leichter Sommerwind über den Vorhang strich, wenn sie am Morgen aufwachte, wie die blaue Seide sich sanft bauschte und die Sterne ihr im Sonnenlicht zublinzelten. Doch am besten gefiel ihr, wenn sie an einem kalten Winterabend warm und gemütlich im Bett lag und ihre Mutter Channa anschaute, die ihr und Leah vorlas. Der Raum war in das tröstliche Blau des seidenen Vorhangs getaucht, der vom Laternenlicht draußen im Hof beleuchtet wurde. Für Josephine bedeutete der Wandbehang ihr Zuhause – Berlin. Er bedeutete Wärme, Sicherheit und Schutz.
Aber Berlin sollte nicht lange Josephines Zuhause sein. Und ganz sicher bot es keinen Schutz.
An einem kalten, nassgrauen Nachmittag im März 1939 , als Josephine acht war, kam sie von der Schule nach Hause und sah, wie ihre Eltern Kleider aus Schränken und Schubladen holten und, so schnell sie konnten, in Koffer stopften. Zwei kleinere Koffer lagen offen auf dem Boden. Channa, deren Arme voll beladen waren, schob sie mit einem Fuß in die Richtung ihrer Töchter. «Einer für jeden von euch. Packt. Wir verlassen Berlin noch vor Sonnenaufgang.»
Schon seit Tagen – ja sogar Wochen –, vielleicht sogar schon seit jener Nacht im November, als alle jüdischen Schaufenster zerschmettert worden waren, hatte Josephine gespürt, dass etwas von ernster Bedeutung vor sich ging. Ihre Eltern unterhielten sich im Flüsterton über Papiere und eidesstattliche Erklärungen, die noch nicht da waren. Die Nachbarn starrten sie an, und die Lehrer in der jüdischen Grundschule zuckten bereits beim leisesten Geräusch von Schritten auf dem Flur zusammen. Und nun das: Sie würden Berlin am nächsten Morgen verlassen. Aber wohin sollten sie
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