Sterben in Rom
sie eine vage Berührung an der Schulter spürte, zuckte Lilith erschrocken zusammen, so tief war sie in ihre eigenen Gedanken und Beobachtungen versunken gewesen. Jetzt wandte sie den Kopf und sah zu ihrem Gefährten hin. Der wiederum hielt den Blick seltsam stier auf den Wagen gerichtet, in den das tote Mädchen verfrachtet worden war; fast schien er wie fasziniert davon .
»Jetzt«, sagte er knapp.
»Was?«
»Wir gehen.«
»Jetzt?« flüsterte Lilith verwundert. »Da draußen wimmelt es von Leuten. Wie willst du da unbemerkt verschwinden?«
Der Mann ohne Namen wies in die Dunkelheit des Raumes, in dem sie sich verbargen.
»Es gibt Durchgänge von Haus zu Haus«, erklärte er. Offenbar hatte er sich in Liliths Abwesenheit ein wenig ortskundig gemacht. »Wenn wir uns in ihrem Schutz bewegen, werden wir niemandem auffallen.«
»Wir sollten abwarten, bis die Meute abgezogen ist«, meinte Lilith.
Er grinste ihr zu. »Dann verpassen wir unsere Mitfahrgelegenheit.« Dabei sah er wieder zum Fenster hinaus und hin zu den Ambulanzwagen, die gerade anfuhren.
»O nein«, stöhnte Lilith. »Du willst doch nicht etwa -?«
Er nickte. »Doch.«
»Ohne mich!« stieß Lilith hervor. Ihre Züge verzerrten sich angewidert. »Ich fahre nicht mit in einem - Leichenwagen.«
Ihr Gefährte zuckte die Schultern.
»Gut«, sagte er. »Dann ohne dich.«
Sprach's und tauchte ein in die Schwärze des Zimmers. Seine Schritte entfernten sich.
»Hey ...!« rief Lilith halbherzig, biß sich aber gleich erschrocken auf die Zunge, um sich selbst zum Stillsein zu zwingen.
Verdammt, was sollte sie bloß tun? Sie hatte nur zwei Alternativen.
Entweder sie überwand ihre gefühlsmäßigen Vorbehalte und folgte ihrem Begleiter - oder sie hatte die längste Zeit einen solchen Gefährten gehabt! Denn hier zurückzubleiben hieß, daß sie fortan allein sein würde - allein und einsam in einer Welt, für die sie eine Fremde war .
Aus dieser Sicht fiel Lilith die Entscheidung fast leicht.
»Warte auf mich!«
*
Es gab weitere heimliche Zeugen des Treibens in der namenlosen Gasse. Aus sicherer Entfernung, von einem der flacheren Dächer aus beobachteten drei Augenpaare das Geschehen dort drunten.
Eines dieser Augenpaare sprühte schier vor kaum bezähmbaren Zorn. Ein anderes schwamm in eigentümlicher Melancholie und Trauer. Das dritte schließlich war von stumpfem Glanz und glotzte teilnahmslos bald hierhin, bald dorthin .
»Du bist ein Idiot, Tacitus«, zischte Titiana zum wiederholten Male in der seit der Bluttat verstrichenen Zeit. Die Funken, die in ihrem Blick tanzten, schienen auf den Angesprochenen überzuspringen, denn unwillkürlich wich er ein klein wenig zurück, als sie ihn anstierte. Trotzdem streckte er die Hand aus, um ihr dunkles Haar aus dem Gesicht zu streichen. Als hätte er sich nach all den endlos langen Jahren noch immer nicht sattgesehen daran, und als könnte es für ihn nie etwas von seiner faszinierenden Anmut verlieren, ganz gleich, ob Haß oder Wut es entstellten.
»Im Grunde genommen bist du ein größerer Risikofaktor als er«, fuhr die Schöne fort. Dabei wies sie mit einer raschen Geste hin zum Dritten im Bunde, der etwas abseits hockte und sinnlose Laute in die Nacht murmelte.
»Es tut mir leid«, sagte Tacitus. Er lächelte schmerzlich und zugleich doch auf jene Weise, mit der er schon so viele über sein wahres Wesen hinweggetäuscht hatte. Bei Titiana indes verfing sein uralter jungenhafter Charme längst nicht mehr. Sein stets sanfter Blick richtete sich auf Tremor, und fast spürbare Wärme strahlte davon aus.
»Es tut dir leid, es tut dir leid!« äffte Titiana ihn nach. »Damit ist uns nicht geholfen! Du wirst noch alles verderben, wenn du ihn -«, sie zeigte auf Tremor, ein dunkler Klotz in finsterster Nacht, »- nicht endlich im Zaume hältst!«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, versicherte Tacitus. Er fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar, als müßte er seine Hände irgendwie beschäftigen. »Aber ich kann ihn schließlich nicht in Ketten legen«, setzte er dann noch hinzu, ungewohnt energisch.
»Vielleicht wäre das die rechte Lösung«, meinte Titiana hart.
»Damit würden wir alles nur schlimmer machen!« begehrte Taci-tus auf. »Wenn wir ihn behandeln wie einen Gefangenen, dann wecken wir nur seine Erinnerungen an alles, was damals geschehen ist -«, er warf Tremor einen weiteren Blick zu, vage argwöhnisch diesmal und doch auch voll von Mitleid und Bedauern, »- und an jene,
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