Sterben War Gestern
dein Vorgehen unverantwortlich. Vor allem dir selbst gegenüber.“
Inge sagte nichts. Sie war müde, erschöpft und gekränkt. Sie hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden Verónicas Anrufe und die besorgten Kurznachrichten ihrer Tochter ignoriert, hatte munter das Gegenteil dessen getan, was die Ärzte ihr geraten hatten, und wollte nur noch das, was ihr gerade verboten war: schlafen.
„Ich mache mir einfach Sorgen um dich“, fing Sylvia noch einmal an.
„Warum denn? Du kennst mich doch gar nicht.“
„Nein. Aber ich weiß, wie sehr es an die Nieren geht, wenn bei einem Einsatz jemand zu Tode kommt, ganz egal, wie und wer. Und ich weiß, dass du hier bist, weil du mit einem Schuldgefühl nicht klar kommst.“ Inge hob an, um zu protestieren, aber Sylvia fiel ihr ins Wort. „Hör doch mal auf, dich zu wehren, ich will dir überhaupt nichts Böses. Im Gegenteil. Ich sehe doch, wie fertig du bist.“ Sie kam einen Schritt näher. „Und wie hart gegen dich selbst. Lass dir doch einfach helfen.“
Inge ließ es hinter einem Tränenschleier geschehen. Dass Sylvia vorsichtig den Arm um sie legte, sie sanft, aber bestimmt zum Auto brachte, sie mit zu sich nach Hause nahm und ihr einen Kräutertee kochte.
Als Hauptkommissar Werle am nächsten Tag in Rostock landete, wurde er von Inge Nowak abgeholt. Die Geschichte, die ihm seine Amtskollegin aus Berlin erzählte, schien ihm ebenso unglaublich wie die, die er gerade selbst erlebt hatte. Erich Werle wusste, dass seine berufliche Zukunft nun maßgeblich von Inge Nowak abhängen würde. Und umgekehrt. Sie hatten einander in der Hand und er entschied sich, entgegen seiner Gewohnheit ihr seine zu reichen und einfach die Wahrheit zu sagen. Nicht zuletzt, weil ihm Helenes Worte zum Abschied noch im Ohr klang: „Es macht keinen Sinn, Geschichten zu erfinden. Sie sind niemals so gut wie die Wirklichkeit.“
„Genießen Sie es“, lächelte Inge Nowak, als er mit seiner kleinen Beichte fertig war.
Nach über dreißig Stunden ohne Schlaf, nach einer Nacht, die für sie im Wesentlichen darin bestanden hatte, in den Armen von Sylvia zu weinen, nach einem Vormittag, an dem sie sich stundenlang mit hundert anderen ihre Gefühle aus dem Leib geschrien und getanzt hatte, und nach einem Mittagessen mit Ewald, das weniger von einer Unterhaltung als von hysterisch-übermüdetem Gekicher gekennzeichnet war, hatte sie inzwischen einen Zustand erreicht, für den andere Menschen wohl eine Menge Drogen nehmen mussten. Sie fühlte sich leicht, ein wenig entrückt, und sie hatte ausgesprochen gute Laune. Selbst das kurze Telefonat mit Verónica in deren Mittagspause hatte sie als angenehm empfunden: Endlich begriff Inge, warum alle Welt so scharf darauf war, Endorphine auszuschütten.
„Wie geht es denn jetzt weiter?“, fragte Erich Werle mit einem Seitenblick auf sein Handy, das seit seiner Ankunft in Rostock schon mindestens fünfmal vibriert hatte.
„Ellen Weyer ist der Schlüssel zu allem.“
„Hätten Sie Lust, mich ins Krankenhaus zu begleiten? Ihnen vertraut sie sicher eher als mir.“
„Gerne.“
Auf der Taxifahrt plauderten sie über Städte.
„München“, fand Werle, „ist im Vergleich zu Köln und Rostock eine Weltstadt.“
„Auch ungefähr so teuer, wenn ich mich recht erinnere.“
„Stimmt. Sie dürften in Berlin andere Preise gewöhnt sein.“ Was Erich Werle nicht dazu sagte, war, woher er wusste, dass keine andere deutsche Großstadt so billig war. Selbst die Dienstleistungen vom gastronomischen Angebot über den Escort-Service bis hin zum Hotelzimmer mit gepflegter Begleitung waren bezahlbar. Doch wenn der Hauptkommissar jetzt an seine einsamen Wochenendtrips dachte, kam es ihm vor, als wären es Erinnerungen aus einem anderen Leben. In Zukunft würde er vom Flughafen abgeholt werden und privat übernachten. Oder Helene sogar in seine Wohnung einladen. Jedenfalls hoffte er das. Und auch, dass Inge Nowak bis auf Weiteres die Einzige wäre, die davon wüsste.
Im Rostocker Universitätsklinikum fanden sie eine ansprechbare Ellen Weyer vor, die aufrecht im Bett saß und versuchte, einen Teller Suppe zu essen. Sie sah noch sehr mitgenommen aus, das Löffeln kostete sie offensichtlich große Anstrengung, aber sie war außer Lebensgefahr.
„Sie ist natürlich schwer traumatisiert“, erklärte der behandelnde Arzt. „Wir wissen noch nicht, ob sie gesehen hat, wie ihr Freund getötet wurde, fest steht aber, dass sie Stunden mit der Leiche in einem
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