Sterben War Gestern
unter Deck geblieben. Verónica hatte sich zweimal zum Salsatanzen auffordern lassen und Johanna hatte ihr bewundernd dabei zugesehen, wie sie sich leichtfüßig über die Tanzfläche bewegte.
„Sieht toll aus, wenn du tanzt.“
„Danke. Willst du auch mal? Ich führ dich und zeig dir ein paar Schritte.“
Johanna hatte den Kopf geschüttelt und war trotzdem ungelenk von dem Barhocker heruntergestiegen. Das lange Sitzen bereitete ihr Unbehagen und die Musik dröhnte in ihren Ohren. Seit dem Unfall reagierte sie empfindlich auf alles Laute, es kam meist ganz plötzlich, dass sie sämtlichen Geräuschen entfliehen wollte.
Verónica hatte gespürt, dass ihre Begleiterin sich unwohl fühlte.
„Bisschen anstrengend hier, was? Wollen wir raus?“
Die junge Frau hatte dankbar genickt, Verónica hatte ihre Gläser mitgenommen und auf dem Weg nach oben zwei Decken unter den Arm geklemmt.
An der Seite des Schiffs fanden sie einen windgeschützten Platz mit Blick auf das Wasser. Unter ihnen vibrierte dumpf die Musik, vor ihnen plätscherte leise die Spree, über ihnen erstreckte sich ein weiter nächtlicher Stadthimmel, dunkelblau und von hellen Wolken bevölkert.
„Ist mir früher nie aufgefallen, dass man Wolken nachts sehen kann“, sagte Johanna. „Erst im Krankenhaus. Wenn ich nachts wach lag. Dann habe ich oft den Himmel beobachtet, die Sterne gezählt und gesehen, was eigentlich da oben los ist, wenn alle schlafen.“
„Da, wo ich herkomme, wird es irgendwie nie richtig dunkel, also nicht so schwarz wie hier im Winter.“
„Hast du manchmal Heimweh?“
„Ja, aber ich weiß nicht wonach.“ Verónica lächelte. „Jedenfalls nicht nach Spanien.“
„Dann ist es kein Heimweh.“
„Sondern?“
„Sehnsucht.“
Auf der anderen Seite des Flusses blinkten Lichter, fuhren Autos eine Straße entlang. Johanna verfolgte sie mit ihrem Blick von links nach rechts, bis sie hinter einer Brücke verschwanden.
„Ja, wahrscheinlich“, nickte Verónica.
„Weißt du, wonach ich mich sehne?“
Sie schüttelte den Kopf. Im seichten Licht der roten und gelben Lichterkette, die das Oberdeck des Schiffs beleuchtete, schimmerte die Narbe an Johannas Hals beinahe silbern.
„Nach Zärtlichkeit“, sagte sie leise.
Es gab in diesem Augenblick keinen einzigen Gedanken in Verónicas Kopf, nur eine Stimme in ihrem Herzen, der sie blind folgte. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die von Johanna und streichelte sanft ihre Finger. Schloss die Augen und ließ es geschehen, dass auch sie berührt wurde, ganz leicht auf der Haut und tief darunter.
Plötzlich zuckte Johanna zusammen und Verónica zog ihre Hand zurück. Doch Johanna griff nach ihr und hielt sie fest.
„Nicht aufhören, bitte.“
„Ich dachte, du magst es nicht.“
„Doch. Sehr. Es ist schön, aber es tut auch weh.“ Sie schob den weiten Ärmel ihres Kapuzenpullis ein wenig nach oben und oberhalb des Handgelenks konnte Verónica sehen, was die sengende Hitze innerhalb von Sekunden angerichtet und was die Zeit aus der Wunde gemacht hatte. Sie hielt Johannas Hand ein wenig fester und sah ihr in die Augen.
„Du bist wahnsinnig tapfer, weißt du das?“
„Das sagen alle.“
„Und du bist wahnsinnig schön.“
Bevor Johanna ihr widersprechen konnte und bevor sie es sich anders überlegen konnte, bevor das schlechte Gewissen einen Riegel vorschieben würde, bevor der Zweifel sie überfiele, tat sie es einfach. Verónica küsste Johanna auf den Mund.
Dr. Juliane Meyfarth war noch auf dem Rasen des Krankenhauses gestorben, in dem sie am Ende ihres Studiums fast alles über den menschlichen Körper und seine Seele gelernt hatte. Niemand würde jemals erfahren, dass Inge Nowak kurz vor ihrem Tod eine Waffe auf sie gerichtet hatte. In dem offiziellen Bericht würde später stehen, dass Kriminalhauptkommissarin Nowak an jenem Abend mit ausdrücklicher Erlaubnis ihres Rostocker Kollegen Erich Werle die noch nicht vernehmbare Ellen Weyer privat im Krankenhaus besucht hätte. Dabei hätte sie Juliane Meyfarth am Krankenbett überrascht, die bei dem Versuch zu flüchten vom Fensterbrett abgerutscht und in die Tiefe gestürzt sei.
Doch noch wussten Sylvia Eberstätter, Timo Heiser und Inge Nowak nicht, wie sie mit den neuerlichen Ereignissen umgehen sollten. Sie saßen in der letzten Kneipe am Hafen, die noch geöffnet hatte, und tranken Bier.
„Warum hast du uns bloß nicht eingeweiht?“, fragte Sylvia Eberstätter kopfschüttelnd. „Und wie bist du
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