Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
ein Trommeln. Es klang, als klopfe etwas gegen die dunkle Fensterscheibe. Sie glaubte sich zu erinnern, dass man so etwas Regen nannte.
Wo war sie? Eine Frage, die sie sich viele Male am Tag stellte. Und allmählich konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern, ob sie je eine Antwort darauf gewusst hatte. Nur manchmal drang noch etwas zu ihr durch, vage und schemenhaft. Gerade war so ein Moment, »ein Schub«, wie die weiß gekleideten Menschen es nannten. Ausgelöst durch ein intensives, quälendes Gefühl in der unteren Region ihres Körpers.
Schmerz , geisterte ein wiedergefundener Gedanke durch ihren Kopf. Dieses Gefühl nennt man Schmerz!
Ihr war heiß. Sie spürte die Hitze ihres Körpers, der nur noch eine Hülle war. Eine nutzlose Ansammlung organischer Masse, über deren Funktionen sie keine Kontrolle mehr hatte. Mühsam tastete sie nach ihrem Arm, und als sie ihn berührte, fürchtete sie, sich daran zu verbrennen. Sie sah den Schlauch, der aus der Haut ragte und zu etwas führte, das mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war und an einer Art Ständer hing.
Beutel ist das Wort, nach dem du suchst.
Ja, ein Beutel, mit diesem Zeug drin. Böses Zeug.
Die Schmerzen wurden schlimmer, und dadurch wurde ihr Verstand klarer. Helft mir doch! , hätte sie am liebsten geschrien, doch sie konnte sich nicht mehr verständlich ausdrücken. Sie raffte die ganze Kraft des Schubes zusammen und erkämpfte sich die Kontrolle über ihre Hand zurück. Schließlich ertastete sie einen länglichen Gegenstand an der Kante ihres Bettes. Darauf befand sich ein Knopf – ein Schalter –, und sie erinnerte sich, ihn schon einmal betätigt zu haben. Früher, in einem anderen Leben, das ihr vorkam wie ein ferner, bis zur Unkenntlichkeit verblasster Traum. Sie wusste nicht mehr, was dieser Schalter auslöste, doch sie musste sich beeilen, es herauszufinden, denn sie spürte, wie die Leere zurückkam. Und mit ihr die Finsternis. Und etwas in ihr, ein letzter Rest Bewusstsein, sagte ihr, dass die Dunkelheit dieses Mal endgültig sein würde.
Und während ihr sterbender Körper mehr und mehr erstarrte, hielten ihre zitternden Finger mit letzter Kraft den Schalter gedrückt.
Thomas Milenz saß im Überwachungsraum des Altenheimes und war in eine Zeitschrift vertieft. Er hatte sich freiwillig zum Nachtdienst einteilen lassen. Im Gegensatz zum hektischen Alltag der Pflegeabteilung war die Nachtwache eine meist ruhige und willkommene Abwechslung, die ihm ein wenig Zeit ließ, sich seiner großen Leidenschaft zu widmen. Ein Motorradkauf stand an, und es galt, Testberichte zu studieren und zu vergleichen. Sein Kollege Andreas Christmann teilte diese Begeisterung mit ihm. Von den Vorzügen der Nachtschicht war er allerdings nur schwer zu überzeugen.
»Gott, ist das öde«, stöhnte er und gähnte. »Erst halb zwölf, und ich sterbe jetzt schon vor Langeweile. In der Glotze läuft nur Mist.«
»Die Ruhe ist doch echt cool«, meinte Milenz, ohne aufzublicken. »Oder würdest du lieber mit Wundsalbe rumschmieren und Betten beziehen?«
»Immer noch besser, als hier zu versauern«, murrte Christmann. Sein anschließender Seufzer wurde jäh von einem Piepen übertönt. Eines der vielen roten Lämpchen auf dem Kontrollpult begann zu blinken.
»O nein, nicht schon wieder die Marek«, stöhnte Christmann. »Die hält uns jetzt schon seit Tagen auf Trab.«
»Ach, die ist bestimmt nur wieder an den Schalter gekommen.«
»Ich weiß nicht. Langsam kommt’s mir vor, als ob sie das mit Absicht macht.«
»Du warst doch eben noch scharf auf Bewegung, also los.«
»Ja, aber nicht die Marek. Die sieht einen immer an, als wollte sie jeden Moment über dich herfallen. Richtig unheimlich.«
Milenz legte die Zeitschrift hin und seufzte gequält. »Das soll wohl heißen, dass ich mal wieder ranmuss.«
Christmann stand auf und verbeugte sich mehrmals vor Milenz wie ein Moslem beim Gebet. »O barmherziger Tom, Retter der Unwilligen, geheiligt sei deine unendliche Gnade …«
»Lass den Quatsch«, knurrte Milenz. »Ich gehe – unter einer Bedingung: Wenn ich zurückkomme, will ich frischen Kaffee riechen – wenn das nicht zu viele Umstände macht.«
»Ich denke, damit kann ich leben«, grinste Christmann.
Milenz ging den hell erleuchteten Flur entlang zum Westflügel. Das Geräusch seiner Schritte wurde vom Getöse des Gewittersturms übertönt, der draußen tobte. Bis in den späten Nachmittag hinein hatten sich dichte Regenwolken am Himmel
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