Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
großes, mit weißen Vorhängen verdecktes Fenster von den übrigen unterschieden. Lediglich der silbergraue Leichenwagen im Hof nebenan ließ erahnen, dass ein Besuch hier meist keinen freudigen Anlass hatte.
Das Zimmer der Geschäftsleitung lag im Untergeschoss. Es war klein und eng. Bücher- und Aktenschränke, grau gestrichene Wände, fantasielose Möbel. Ein Büro wie jedes andere. Trotzdem beschlich Sven ein seltsames Unbehagen. Unweigerlich tauchten die schrecklichen Bilder aus jener Scheune wieder in seinem Kopf auf, und einen Moment lang musste er die Augen fest zusammenkneifen, um sie zu verbannen.
»Bitte, setzen Sie sich doch.« Norbert Gerlach deutete auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. Er hatte eine tiefe Stimme, die zu seiner ergrauten Erscheinung passte. »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«
»Es geht um das Altenheim Waldesruh«, erklärte Sven. Seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich und versuchte seine Unsicherheit hinunterzuschlucken. Es gelang ihm nicht.
»Ach, Sie meinen dieses neumodische Ding draußen vor der Stadt, das aussieht wie ein Raumschiff aus einem Science-Fiction-Film.« Gerlach machte eine abfällige Handbewegung und beugte sich vor. »Ich persönlich habe ja nie begriffen, wie man es zulassen konnte, dass diese schöne Landschaft derart verschandelt wird«, fuhr er fort. »Ich halte nicht viel von solchen Heimen, müssen Sie wissen. Beruflich habe ich oft damit zu tun, und in manchen herrschen Zustände wie in einem Flüchtlingslager.«
»Nun ja, solche Verhältnisse können wir wohl in dem Fall ausschließen.« Unwillkürlich verspürte Sven das Bedürfnis, das Heim in Schutz zu nehmen, nicht zuletzt, weil Sandra dort arbeitete.
»Mag sein«, erwiderte Gerlach. »Trotzdem halte ich nichts davon. Es passt einfach nicht hierher.«
»Unseren Unterlagen zufolge«, sagte Sven, »sind Sie bei Todesfällen dort als Bestatter tätig. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Dann können Sie uns sicher etwas über den Todesfall am späten Samstagabend erzählen.«
»Ach, Sie meinen die alte Frau Marek.« Der streitlustige Ausdruck in den blassen Augen des Beerdigungsunternehmers verschwand. »Tragisch. Eine furchtbare Krankheit, Alzheimer. Man beklagt sich andauernd, aber durch so etwas wird einem erst bewusst, wie viel Glück man bis jetzt gehabt hat.«
»Hatten Sie schon öfter in dem Heim zu tun?«, wollte Sven wissen.
»Da müsste ich nachschauen.« Geschickt fingerte Gerlach seine Lesebrille aus dem Etui und setzte sie auf. »Mein Gedächtnis ist mittlerweile schlechter als meine Augen«, erklärte er und tippte auf der Tastatur seines Computers herum.
Unterdessen fuhr sich Dennis nervös mit den Fingern über die Lippen und betrachtete schmachtend den blitzsauberen Aschenbecher, der vor ihm auf dem Tisch stand. »Sie sind nicht zufällig Raucher, Herr Gerlach?«
Das Klacken der Tastatur verstummte kurz, und Gerlach sah Dennis über die Ränder seiner Brille hinweg an. »Nein, tut mir leid. Wenn man wie ich jeden Tag mit dem Sterben zu tun hat, riskiert man nichts, was den eigenen Tod beschleunigen könnte.«
»Verstehe«, sagte Dennis enttäuscht. »Klingt einleuchtend.«
»Da haben wir es ja«, meinte Gerlach, als er den entsprechenden Ordner gefunden hatte. »Anscheinend war das bisher der einzige Sterbefall – zumindest soweit es unsere Firma betrifft. Aber das wundert mich nicht sonderlich. Das Heim existiert schließlich erst seit vier Jahren.« Behutsam nahm er die Brille ab und sah die beiden Beamten an. »Worum geht es eigentlich bei Ihren Nachforschungen?«
Gute Frage, dachte Sven. Die Wahrheit war, dass er sich selbst nicht sicher war. Was sollte er dem Mann erzählen? Dass sie wegen eines Gefühls hier waren? Wegen einer vagen Ahnung, die noch dazu von einer alten Schuldfrage herrührte?
»Wir würden gerne mehr über den Arzt erfahren, der den Totenschein ausgestellt hat«, gab er schließlich seinem Instinkt nach.
»Dieser Krämer?«, fragte Gerlach, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ja. Er war doch anwesend, als Sie eintrafen, nicht wahr?«
Gerlach nickte.
»Ist Ihnen an seinem Verhalten etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Hm«, erwiderte Gerlach, »ungewöhnlich ist gar kein Ausdruck.«
»Inwiefern?«, wollte Dennis wissen.
»Nennen Sie es Intuition oder gesunden Menschenverstand, aber irgendetwas stimmt nicht mit dem. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als er den Totenschein ausgestellt hat. So stelle ich mir einen
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