Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
erneut an, »war die Anzahl dieser Blutkörperchen fast doppelt so hoch wie normal. Das heißt, das Abwehrsystem des Menschen, von dem die Probe stammt, muss anormal ausgeprägt und äußerst aggressiv sein. Erst nach einem weiteren Routinetest haben wir schließlich herausgefunden, weshalb das so war. Eigentlich war es mehr ein Zufall, dass wir darauf gestoßen sind, denn es war kaum noch etwas nachzuweisen, aber wir haben einen fremden Erreger entdeckt. Und zwar einen Erreger, gegen den das Immunsystem gezielt vorgegangen ist.«
»Gezielt?«, unterbrach ihn Sven. »Was soll das heißen?«
»Nun ja.« Bremer lehnte sich mit verschränkten Armen an Daums Schreibtisch und vermied es dabei, Rößner anzusehen, der schon wieder auf die Uhr schaute. »Normalerweise ist an diesem Vorgang nichts Ungewöhnliches, schließlich ist genau das unter anderem die Aufgabe dieser Zellen. Aber in diesem speziellen Fall scheint es doch ziemlich ausgeschlossen, ja nahezu unmöglich zu sein. Trotzdem hatten wir erhebliche Mühe, den Erreger einwandfrei nachzuweisen, da der Großteil des Stammes bereits abgetötet war. Was schon erstaunlich genug ist.«
»Aber ist es nicht so«, wandte Sven ein, »dass sich das Abwehrsystem auf bestimmte Erreger einstellen kann?«
Bremer nickte zustimmend. »Ja, Sie haben völlig recht. Bestimmte Abwehrzellen haben eine Art Gedächtnis, mit dem sie häufig auftretende Viren oder Bakterien frühzeitig erkennen und ausschalten können. Nichts anderes geschieht bei einer Impfung. Die Zellen werden sozusagen an einen bestimmten Erreger gewöhnt, damit sie ihn im Falle einer tatsächlichen Infektion erkennen können.«
Verwirrt runzelte Sven die Stirn. »Und was ist dann so ungewöhnlich daran?«
Bremer setzte ein triumphierendes Lächeln auf. Jetzt hatte er sie da, wo er sie haben wollte. »Eigentlich nichts«, sagte er, »wenn es sich hier nicht um einen Erreger handeln würde, den das Immunsystem normalerweise erst gar nicht erkennen kann . Also haben wir die Probe auf Substanzen untersucht, die in bestimmten Medikamenten vorkommen, deren Kombination diesen Effekt hervorbringen kann, sind jedoch nicht fündig geworden.«
»Und um was für einen Erreger handelt es sich?« Rößner tat sein Bestes, die Unterredung voranzutreiben.
Bremer legte die Unterlagen hin, richtete sich auf und nahm behutsam seine Brille ab. Die Augen dahinter blickten ernst und angespannt. »Derjenige, dem dieses Blut abgenommen wurde«, sagte er, »ist HIV -positiv. Und wie es scheint, hat sein Immunsystem Antikörper gegen Aids entwickelt.«
Rößner und die anderen wechselten Blicke. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als würde sich der verblüffte Ausdruck auf ihren Gesichtern für immer dort festsetzen.
»Aids?«, fragte Sven schließlich. Er hatte so ziemlich mit allem gerechnet, doch dies übertraf selbst seine kühnsten Vorahnungen.
»Ja«, bestätigte Bremer und setzte die Brille wieder auf. »Da meine Kenntnisse auf diesem Gebiet aber nicht ausreichen, habe ich die Probe nach Rücksprache mit Herrn Daum zur weiteren Analyse zu Professor Staude an die Secours-Klinik in Frankfurt geschickt.«
»Du wusstest davon?« Vorwurfsvoll sah Sven zu Daum hinüber, der stumm an seinem Schreibtisch saß und so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Das machte Sven nur noch wütender. »Warum hast du mir nichts gesagt? Du wusstest doch, wie dringend das war.«
»Ja, aber ich – wir – wollten erst die Reaktion aus Frankfurt abwarten«, verteidigte sich Daum und strich sich über das kurze Nackenhaar.
»Sie sagten, der Mann heißt Staude?«, wandte Sven sich wieder an Bremer.
»Ja«, antwortete dieser. »Professor Dr. Manfred Staude, seit Jahren der führende Aids-Experte in Deutschland. Ist unter anderem an der Entwicklung und Erprobung eines möglichen Impfstoffes beteiligt. Deshalb haben wir ihn um seine Meinung gebeten.«
Staude , wiederholte Sven im Stillen. Woher kannte er diesen Namen? »Und der Professor war auch Ihrer Ansicht?«
»Nun, nicht direkt«, sagte Bremer. »Er hat uns von Studien an sogenannten Langzeitüberlebenden erzählt, die das Virus zum Teil seit zwanzig Jahren im Blut haben, bei denen die eigentliche Krankheit aber nie ausgebrochen ist. Bei manchen davon konnte man den Erreger gar nicht mehr nachweisen. Die Wissenschaftler haben diese Phänomene lange Zeit unbeachtet gelassen, weil sie sie für seltene Einzelfälle hielten. Mittlerweile gehen einige Forscher sogar davon aus, dass
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