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Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Titel: Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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haben meine Mutter mit Medikamenten vollgepumpt, von denen manche gar nicht offiziell zugelassen waren. Sie haben aus ihr eine Laborratte gemacht, an der sie ihre neuesten Erfindungen getestet haben. Obwohl sie wussten, dass es sinnlos war. Warum hat man sie nicht einfach in Frieden sterben lassen?«
    »Weil Hoffnung so ziemlich das Einzige ist, was für diese Menschen noch zählt.« Staude zeigte auf eine Patientengruppe, die fünf Tische entfernt an einem Ecktisch saß. Beinahe schien es, als wären sie durch eine unsichtbare Mauer von den übrigen Gästen getrennt. »Sehen Sie diese Menschen dort?«
    Koschny nickte verhalten. Es war ihm peinlich, sie direkt anzusehen.
    »Ein paar davon sind Patienten von mir.«
    »Sie meinen, Aids-Patienten?«
    »Ja. Sehen Sie sie an«, sagte Staude. »Sehen Sie genau hin. Sie sehen aus wie Ihre Mutter damals, nicht wahr? Bleich, abgemagert und kraftlos.«
    Koschny schluckte. Die Ähnlichkeit war tatsächlich erschreckend.
    »Aber bei diesen Menschen ist nicht irgendeine Therapie daran schuld. Es ist der natürliche Verlauf dieser Krankheit, der sie so schwächt. Irgendwann bricht ihr Immunsystem zusammen, und sie sterben an einer harmlosen Infektion. Es ist vor allem die Ausgrenzung durch die Gesellschaft, die diese Krankheit so grausam macht, junger Mann.«
    Koschny war versucht, Staude zu sagen, er solle ihn gefälligst nicht ständig junger Mann nennen. Diese Umschreibung hatte etwas von einem Lehrer, der einen aufsässigen Schüler zurechtwies. »Ja«, erwiderte er stattdessen, »bei meiner Mutter war das ähnlich.«
    »Dann wissen Sie ja, wovon ich rede. Trotz aller Aufklärung in den letzten zwanzig Jahren werden Aids-Kranke oft immer noch wie Aussätzige behandelt. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Krankheit nicht mehr bis in die Köpfe der nachwachsenden Generation vordringt. Seit es Mitte der Neunzigerjahre gelungen ist, die Krankheit durch antivirale Therapie einzudämmen, glauben viele jüngere Leute, Aids sei kein Thema mehr. Dabei gibt es zurzeit weltweit etwa fünfunddreißig Millionen Infizierte, vermutlich liegt die Dunkelziffer wesentlich höher.« Wieder deutete er zu der Gruppe hinüber. »Ein HIV -Patient muss jeden Tag fünfunddreißig verschiedene Medikamente einnehmen, zum Teil mit hohen Nebenwirkungen. Und die bewirken nur einen Aufschub, keine Heilung. Es gibt nach wie vor keine Garantie, dass die Krankheit nicht doch ausbricht oder dass der Körper diese Belastung lange genug aushält. Und trotzdem schwöre ich Ihnen, Sie könnten jetzt dort rübergehen und eine geladene Pistole auf den Tisch legen. Und obwohl jeden einzelnen dieser Menschen dort das gleiche Schicksal erwartet, würde niemand davon Gebrauch machen. Denn da ist noch immer diese Hoffnung, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass es besser geworden ist und dass sich ihre Blutwerte wieder normalisieren. Diese Hoffnung ist es, die sie hierhergetrieben hat. Ich teile diese Hoffnung zwar nicht, da sie in über neunundneunzig Prozent aller Fälle unbegründet ist, aber ich werde den Teufel tun und sie ihnen nehmen, indem ich sie für tot erkläre. Und wenn Sie das für unwürdig halten, junger Mann, dann ist das Ihre Sache. Ich für meinen Teil kann jedenfalls gut damit leben.«
    »Aber dann tun die amerikanischen Forscher Ihnen doch eigentlich einen Gefallen, wenn sie diese Hoffnung durch ihre Sensationsmeldungen am Leben erhalten.«
    »Nein. Diese Leute spielen mit den Hoffnungen ihrer Patienten. Das ist etwas ganz anderes.«
    Koschny sah Staude aufmerksam in die Augen, unter deren festem Blick er sich mehr denn je wie ein dummer Schuljunge fühlte. »Mag sein«, entgegnete er, »aber Sie müssen mir zustimmen, dass das Geschäft mit Krankheiten sehr profitabel ist.«
    »Profitabel ist das Geschäft mit Meeresfrüchten auch«, erwiderte Staude. »Trotzdem scheint es niemanden zu interessieren, dass die Weltmeere bald leergefischt sind. Warum also haben Sie es ausgerechnet auf uns Mediziner abgesehen? Wir versuchen lediglich, den Menschen zu helfen. Natürlich sind die Leute, die meine Forschungen finanzieren, daran interessiert, die Ergebnisse gewinnbringend zu vermarkten …«
    »Natürlich«, warf Koschny ein.
    »… aber bitte bedenken Sie, junger Mann, dass sie erst einmal eine Menge investieren müssen. Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, was zehn bis fünfzehn Jahre Forschung an Geldern verschlingen? So lange dauert es nämlich in der Regel, bis ein neues

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