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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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erwähnt worden wäre.
    Die meisten Menschen kümmern sich nicht um Abrechnungen zwischen verschiedenen Gangs. Sie denken: »Ist doch wunderbar, wenn die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, dann gibt es in unseren Straßen weniger Idioten.«
    Er zögert, doch dann ruft er Nora an, ohne eigentlich recht zu wissen, was er von ihr will. Vielleicht hofft er auf neuere Informationen über diese brennenden Idioten, vielleicht ruft er sie aber auch aus ganz anderen Gründen an.
    Weil er wissen will, wo sie ist.
    Er weiß, dass sein Verhalten dumm und jenseits jeglicher Vernunft ist, kann sich aber nicht dagegen wehren. Er muss wissen, ob sie bei Gundersen ist, ob ihre Stimme traurig oder fröhlich klingt und ob er einen Anflug von Sehnsucht wahrnehmen kann, wenn sie seine Stimme hört. Seit Jonas’ Tod haben sie nicht mehr miteinander telefoniert. Damals rief sie ihn an und fragte, ob er Jonas im Kindergarten abholen und ihn bis zum nächsten Tag nehmen könne, obgleich es eigentlich ihre Woche war. Sie sagte, sie sei krank geworden. Natürlich hat er eingewilligt, das ist doch selbstverständlich .
    Seit diesem Tag sind es nicht das Feuer oder Jonas’ Tod, die sie innerlich auffressen, sondern die Vorwürfe, die sie sich selbst macht, gerade an diesem Tag krank geworden zu sein und Henning gebeten zu haben, sich um Jonas zu kümmern. Hätte sie sich nicht krank gefühlt, wäre Jonas nicht bei ihm gewesen und folglich jetzt noch am Leben.
    Er ist sich sicher, dass Nora seitdem jede Erkältung, jede Grippe, jedweden Schmerz negiert und verdrängt, frei nach dem Motto: Das ist nichts, das geht vorüber, ich komme schon zurecht und kann arbeiten gehen. Sicher kommen ihr trotzdem jedes Mal die gleichen Gedanken: Warum habe ich damals nicht die Zähne zusammengebissen und ihn trotzdem abgeholt? Wie krank war ich eigentlich wirklich?
    Gedanken, an denen man verzweifeln und verrückt werden kann. Er selbst denkt immer an die drei großzügig eingeschenkten Gläser Cognac, die er an diesem Abend getrunken hat, nachdem Jonas eingeschlafen war. Vielleicht hätte er das Leben seines Jungen retten können, wenn es nur zwei gewesen wären? Oder nur eins? Oder wenn er am Abend zuvor früher ins Bett gegangen wäre? Dann wäre er vielleicht nicht vor dem Fernseher eingeschlafen, als es plötzlich zu brennen begann?
    Was wäre wenn .

30
    Er lässt es lange klingeln. Vielleicht sieht sie ja auf dem Display, dass er es ist. Vielleicht hat sie aber auch ein neues Handy und die Kontakte vom alten nicht übertragen. Außerdem ist es durchaus möglich, dass sie ihn schlicht und einfach gelöscht hat. Oder gerade etwas ganz anderes macht. Ihr Leben leben, zum Beispiel.
    Er ist überrascht, als sie am Ende doch antwortet. Eigentlich hatte er nach dem zehnten Klingeln auflegen wollen, was er dann aber doch nicht getan hat. Ihre Stimme klingt wach, als sie Hallo und seinen Namen sagt.
    »Hallo, Nora«, antwortet er.
    Verdammt, wie weh es tut, ihren Namen auszusprechen.
    »Wie geht es dir?«, fragt sie. »Ich hab gehört, was dir passiert ist.«
    »Gut.«
    »Du musst doch eine Todesangst gehabt haben?«
    »Eigentlich war ich in erster Linie wütend.«
    Das stimmt sogar, wenn er es sich genau überlegt. Es ist kein Versuch, sich als Actionheld darzustellen, er war tatsächlich wütend, weil er ganz einfach nicht wollte, dass sein Leben auf diese Weise zu Ende geht, mitten in einem Crescendo, mitten in etwas, das er nicht zu Ende gebracht hat.
    Sie schweigen beide. Es gab Zeiten, da konnten sie gut zusammen schweigen, jetzt ist es nur unangenehm. Sie stellt keine weiteren Fragen, sodass er schnell etwas tun muss, ehe es unerträglich wird. Vermutlich will sie nicht zeigen, wie besorgt sie ist, denkt er, es ist ja möglich, dass Gundersen im selben Raum ist.
    »Weshalb ich anrufe: Ich bin da gerade an einer Sache dran und dabei über einen Artikel gestolpert, den du vor ungefähr einem halben Jahr über Bad Boys Burning geschrieben hast. Erinnerst du dich daran?«
    Ein paar Sekunden ist es ganz still.
    »Ja. Die lagen damals im Clinch mit einer anderen Gang. Hemoraiders hießen die, glaube ich.«
    Wieder so ein bedrohlicher Name, denkt er.
    »Stimmt.«
    »Vier, fünf Leute endeten im Krankenhaus. Stichwunden und gebrochene Knochen.«
    »Stimmt auch.«
    »Wieso schreibst du über die?«
    Er überlegt, ob er ihr alles erzählen soll, aber dann fällt ihm wieder ein, dass sie für die Konkurrenz arbeitet und Diskretion ein Kapitel in ihrem

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