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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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riskierte zugunsten meiner Forscherpflicht eine Rücksichtslosigkeit.
    »Wie weit haben Sie es denn im Lernen gebracht?« fragte ich daher.
    »Nur zum binomischen Lehrsatz und zur Integral- und Differentialrechnung und gar nicht weiter«, entgegnete er mit erstickter Stimme und wies dabei auf seinen Blähhals.
    »Für uns wäre das allerlei gewesen«, meinte ich, sehr betroffen, »und die meisten von uns hätten stolz sein können …«
    Er sah mich ungläubig an:
    »Das ist doch alles Kindergartenstoff«, seufzte er und fügte hinzu: »Das wäre noch lange nicht das Schlimmste: die Kommission aber hat entschieden, daß ich zu wenig hypothetische Konditionalsätze im Gebrauch habe.«
    Es klang, wie wenn ein Patient sagt: »Zu wenig rote Blutkörperchen.«
    »Was sind das: hypothetische Konditionalsätze?« fragte ich nun selbst ganz und gar verstört.
    Der Capricornettenhirt zog die Stirne kraus vor wilder Denkanstrengung. Dann, nach einer Weile, stieß er stotternd hervor: »Wenn der Einfältige dieses Zeitalters nicht so einfältig wäre, könnte auch er heute mit einer von diesen Bräuten tanzen!«
    Ja, das war ein hypothetischer Konditionalsatz ganz und gar und ein lyrischer Ausbruch dazu, der Schweigen gebot. Ich winkte dem Einfältigen, voranzugehen, um mir den Weg zu weisen. Er setzte sich in Bewegung. Ich blieb ihm dicht auf den Fersen, denn die Capricornetten schienen mir noch immer nicht wohlgesinnt zu sein. Wo sie mir einen böckischen Schabernack spielen konnten, die Kleinen, taten sie’s. Einmal wäre ich fast hingestürzt. Da setzte der Einfältige des Zeitalters seinen Lederschlauch an den Mund. Ich glaubte, er trinke, denn es kam kein Dudelsackton zustande. Alles blieb still. Die bösen Tiere aber fielen in Reih und Glied und nickten mit Hornköpfchen und Ziegenbärtchen rhythmisch ihres Weges dahin. Was nämlich mentale Musik war, das hatte ich noch nicht erfahren.
    Der Arbeiter, vor dem ich nun im grünsten Grün stand, war ein wirklicher Riese und wie nicht von dieser Zeit. Er maß nicht viel weniger als sieben Fuß, hatte aber in seiner strahlenden Hochgewachsenheit nichts mit den armseligen Riesen zu tun, denen man in den Großstädten der fernsten Vergangenheit dann und wann als Portiers vor Kinos, Varietétheatern und Schaubuden begegnete. Diese übernormalen Staturen waren ja zumeist nur die Folgen einer krankhaften Zirbeldrüse, und sie sahen in ihrem tölpischen Riesenwuchs so traurig und unharmonisch aus, als hätte ihnen die Garderobenfrau der Natur auf die richtige Nummer einen falschen Körper herausgegeben, und sie hätten’s zu spät bemerkt.
    Nicht also der Arbeiter: Seine sieben Fuß waren echt und gesund und grundlustig. Die Ursache seiner strotzenden Wohlgediegenheit war sein überaus hygienisches Metier, der Umgang mit dem geheimnisvollen Besprengungssystem, auf welchem die Ökonomie des mentalen Zeitalters beruhte. Alles in der Nähe dieses Systems war grün, war Park, schoß ins Kraut, bekam Mark in die Knochen. Daß es den Capricornetten und Ovetten nicht so erging und sie zwergicht blieben, das war durchaus kein Widerspruch und hatte seine eigenen entwicklungsgeschichtlichen Gründe. Andere Tiere hingegen, vor allem die typischste Gattung des mentalen Tierreichs, die Insekten, hatten an Körpergröße erschreckend zugenommen. Ich spreche hier nicht von den Schmetterlingen, Nachtfaltern, riesigen Silbermotten und libellenähnlichen Doppeldeckern, welche die Singvögel in den uns wohlbekannten Hausgärten ersetzten, ich spreche hier von den Bienen im Park des Arbeiters. Sie hatten die Größe von Kolibris, und man erzählte mir, daß sie nicht nur die Wiesenblüten des Tälchens und der Hügel umschwärmten, sondern auch sonst aus den Wachszieher- und Zuckerbäckerblumen der Umgebung die darin vorhandene schale Süßigkeit sögen und zögen, um daraus ihren Honig zu bereiten. Der Mensch freilich verwendete diesen Honig nicht. Die Kinder im Park des Arbeiters hatten keine Furcht vor diesen stachellosen Riesenbienen, sondern wiesen mit begeisterten Fingern auf sie und nannten sie in einem althellenisch-, schwyzerdütsch- und zullerwelschen Sprachgemisch »Melisseli, dada, Melisseli«! Es ist heraus: der Arbeiter war demnach von Kindern umgeben. Es waren zumeist ganz kleine Kinder, doch wohl Hunderte an Zahl. Und man fuhr sie in regelrechten Kinderwagen, als welche die einzigen Rädergefährte waren, die alles überdauert hatten, ähnlich, aber weit sinnvoller als das Billard.

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