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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Morgenstunden erfüllte, und die sich nicht nur in primitiven Poesien, sondern auch in komischen Sprüchworten, Silbenverdrehungen und Lautspielen Luft machte. Ich aber, während ich nun auf Zehenspitzen neben ihn trat, fühlte mich neben seiner ragenden Höhe widerwärtig klein, neben seiner dröhnenden Gesundheit unaussprechlich hinfällig und schlapp. Nie während meiner Anwesenheit in der mentalen Welt bin ich mir heilloser als eine schlechte, halbgelungene, viertelgare Materialisation vorgekommen als in diesem Augenblick, da ich neben den Arbeiter trat. Er aber, dessen lachende Blauaugen für den Bruchteil einer Sekunde aufmerksam ernst wurden, schien mitzufühlen und mitzuwissen, was in mir vorging. Er umfaßte mich mit seinem gewaltigen linken Arm und drückte leicht meinen Kopf an seine Brust. Dabei sprach er leise zu mir, oder besser, er brummte was Goldenes, und es waren wiederum Verse:
    »Ruhig sinnen, ruhig Atem holen! Du hast ja deinem Schöpfer nichts gestohlen. Rote Sonne ist dein Blut vom Scheitel zu den Sohlen. Das Herz soll siebzigmal in der Minute schlagen. Dein Ich sei Kind, dein Leib sei Kinderwagen. Das Zwerchfell einwärts pressen, das ist falsch und schlecht. Denn des Lebens Morgenjubel sitzt im Sonnengeflecht.«
    Wie man hört, er duzte mich, nicht nur wenn er in Versen sprach. Sein goldenes Löwengebrumm war wundersam hypnotisch. Ich spürte sofort, wie der körperliche Krampf nachließ, in den ich durch meine Erregbarkeit so leicht verfiel. Nach wenigen Atemzügen schon fühlte ich mich brillant; wenn es in meinem Fall nicht absurd wäre, würde ich sagen, ich fühlte mich neugeboren, ich fühlte mich mit einer andern, unaussprechlich behaglicheren Konstitution neugeboren. Meine Nerven quälten mich nicht mehr dadurch, daß sie in wechselnden Emotionsschauern die Blutgefäße übermäßig ausdehnten und zusammenzogen. Meinen Kopf an die gewaltig und ruhig atmende Brust des Arbeiters gelehnt, seine bräunlich rote Riesenhand um meine Hüfte, genoß ich plötzlich eine Ausgeglichenheit meines Wesens, die mir nie vorher zuteil geworden war. In mich kehrten ein die längst vergessenen Wonnezustände der Kindheit, da man sich im Grase wälzte oder durch die Beine hindurch in den Himmel guckte. Das irdische Behagen in mir war so übermächtig, daß ich kaum bemerkte, daß wir schon seit einer ganzen Weile vorwärtsschritten und den Spielrasen mit all den Babies, Kinderwagen und jungen Müttern hinter uns gelassen hatten.
    »Sie sind also der Arbeiter«, sagte ich, um etwas zu sagen, und schmiegte mich fest an seine kraftverstrahlende Persönlichkeit.
    »Der Arbeiter arbeitet spat und früh«, reimte er zur Erwiderung, »doch nur schlechte Arbeit spannt an und macht Müh.«
    »Ja, wenn man so groß und so stark ist«, schwärmte ich, »da macht nichts Mühe.«
    »Ich bin gar nicht so groß und stark«, verfiel der Arbeiter jetzt in Prosa, »da solltest du erst meine Söhne kennen. Die sind viel größer und stärker und stärker und größer.«
    »Wie das«, fragte ich. »Sie, als ein mentaler Weltbeamter, haben Söhne?«
    »Jawohl, zweiundzwanzig Söhne, volle und ganze und ganze und volle zweiundzwanzig«, sagte er, »die hab ich. Und die zweiundzwanzig haben zweihundertzweiundvierzig Söhne, volle und ganze und ganze und volle. Und die zweihundertzweiundvierzig, die haben, warte einmal, die haben ganze und volle eintausenddreihundertundzehn Söhne, die mir Urenkel sind …«
    »Und alle Ihre Söhne«, wagte ich ihn weiter auszuforschen, »und Ihre Enkel und Urenkel, alle sind sie Arbeiter, wie Sie es selbst sind?«
    »Wir alle miteinander sind der Arbeiter«, erklärte der Arbeiter kurz.
    Ich verstand. Der Arbeiter war genau die Umkehrung dessen, was die Grammatiker ein »Pluraletantum« nennen, sie waren eine Mehrzahl, die sprachlich nur in der Einzahl auftritt. Ähnlich mochte es um den Fremdenführer oder den Einfältigen des Zeitalters bestellt sein. Der Arbeiter hier, an dessen Brust ich friedlich lehnte, war das Haupt eines Stammes, in welchem sich körperliche und geistige Kräfte und Tugenden durch Zuchtwahl fortpflanzten, die diesen Stamm oder Clan zu gewissen allgemeinen Diensten befähigten, welche der mentale Durchschnittsmensch nicht mehr zu leisten imstande war. Ich hätte den Arbeiter gern gefragt, wieviel von seinen Söhnen, Enkeln und Urenkeln betreute Parkanlagen es auf dem Planeten gebe, wie diese hier unter unsern Füßen. Da er aber im »Morgenjubel seines

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