Stern der Ungeborenen
mich nicht beirren, sondern bemühte mich weiter um die reine und wahre Deutung dessen, durch das ich gegangen war.
»Der Tod«, fuhr ich fort, »vor allem der Tod im ersten Stadium, ist durchaus kein reines Nichtsein, was ich ja schon gemeldet habe, sondern nur ein Anschein von Nichtsein, wegen Fehlens der Gegensätze. Es ist wahr, das Bewußtsein hört allmählich auf, es verkümmert, es verdorrt mit all seinen nervendurchfaserten Wurzeln, die tief unter der Oberfläche liegen. Doch auch dies ist nur ein Anschein, und zwar der scheinhafteste von allen, denn nicht das Bewußtsein verkümmert, sondern nur die Dualität im Bewußtsein, die Fülle des Dus im Ich, das reflektierende Vis-à-vis in der Existenz. Das Ego steht sich nicht mehr selbst gegenüber, wodurch allein es seiner innewerden kann, wie ein Menschengesicht seiner erst im Spiegel so recht innewird. Das Ich verschwindet in sich selbst, im Ich.«
»So ist es«, nickte der Großbischof und schloß die Augen, halb aus Befriedigung, halb aus Mißbilligung meiner abstrakten Ausdrucksweise.
»Wie aber kommt es zu diesem Verschwinden des Ego im Ego?« fragte ich mutiger mich selbst. »Mit dem natürlichen Leben werden der Seele die Bilder entzogen. Sie erhält keine Nahrung durch Bilder mehr. Psychologisch geschaut ist ja das Leben nichts anderes als eine ununterbrochene Bilderflucht, vom ersten Erwachen des Säuglings bis zum letzten Einschlafen des Moribunden. Der Tod als Erlebnis der Seele ist zuerst ein großes Bilderwelken. Alles was noch kürzlich an uns vorüberflog, fällt nieder und ist nicht mehr. Wenn man zu meiner Zeit in einem stillstehenden Eisenbahnzug saß … Mache ich mich mit solchen Parabeln verständlich, Euer Lordschaft?«
»Sie machen sich verständlich, mein Kind … Fürchten Sie nichts.«
»Wenn man also im stillstehenden Eisenbahnzug saß, an dem ein anderer vorüberfuhr, so hatte man die täuschende Empfindung, jener stehe still und man selbst fahre. Diese Täuschung ist nun aufgehoben. Nichts fährt am Reinen Ich mehr vorüber. Nichts ist da, gegen das es sich abheben könnte. Wie der Geometer und Physiker uns lehrt, daß ein einzelner Punkt im Raum nicht errechnet werden kann ohne einen Bezugspunkt, so kann das Reine Ich sich nicht selbst erleben. Und damit tritt es in das zweite Stadium des Todes, welches das grenzenlose Alleinsein ohne jeden Bezugspunkt und ohne jeden Hintergrund genannt werden könnte.«
»Das grenzenlose Alleinsein«, wiederholte langsam der Bischof, indem er wahrhaftig wie ein wohlwollender Prüfer meine Darstellung kurz zusammenfaßte, um mich auf den richtigen Weg zu bringen:
»Wenn die Bilder an der Seele nicht mehr vorüberziehn, wenn mit ihnen alles verfinstert ist, zu dem die Seele du sagen könnte, und schließlich gar kein begrenztes Gegenüber mehr bleibt, durch welches sie ihrer selbst innewird, ja, was fängt sie da an, die arme Seele …?«
»Ich verstehe Euer Lordschaft nicht recht«, zögerte ich.
»Ich habe gehofft, lieber Sohn«, versetzte der Großbischof, leicht beschattet, »Sie würden der ganzen Wahrheit Ausdruck verleihen können. Totsein heißt in der natürlichen Ordnung gewiß ein grenzenloses Alleinsein. Bedeutet aber in der übernatürlichen Ordnung dieses grenzenlose Alleinsein nicht ein grenzenloses Zuzweitsein? Denn gerade dadurch, daß die bewegten Spiele des zeitlichen Vis-à-vis versinken, jene Spiele, die das irdische Bewußtsein erst schaffen, indem sie es ablenken von seinem wahren Ziel, gerade dadurch, daß die schattengemusterte Mauer zwischen Seele und Sonne zusammenstürzt, wird diese geistige Sonne, das ewige Licht, der dreieinige Gott, selbst zum dauernden Gegenüber, zum Inbegriff des Dus, durch welches das reine Ich sein neues schrankenloses, ekstatisches Bewußtsein erhält …«
»Euer Lordschaft«, sagte ich tief betroffen, »hätte meine arme Seele dieses neue schrankenlose, ekstatische Bewußtsein gewonnen, so säße ich nicht hier. Ich kann nur in vollster Aufrichtigkeit von meiner persönlichen Todeserfahrung sprechen, ohne etwas hinzuzutun oder auszulassen, wozu ja bei solchen hochinteressanten Gegenständen die Versuchung nicht gering ist. Es ist nicht nur nicht möglich, sondern wahrscheinlich, daß ich mich weder an die faktische Bewußtlosigkeit meiner armen Seele noch an ihr Zuzweitsein mit Gott erinnern oder es zumindest nicht reproduzieren kann, denn beides entzieht sich sogar der Protoglossa. Ist es übrigens nicht eine notwendige
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