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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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falsche Rechnung zu transfigurieren, zu verklären? Neugierig hingen meine Augen an seinen Händen. Ich hätte gar zu gerne gewußt, ob seine Handflächen auch so linienlos unbelebt waren wie die von Schaufensterpuppen. Ich konnte aber nichts entziffern, denn zu Fäusten geballt lagen ihm die wächsernen Hände im Schoß. Plötzlich seufzte er tief auf und murmelte, seinen Gedanken zum Abschluß bringend:
    »Ja, zum Staub zurückkehren und der Auferstehung warten …«
    Da konnte ich mich nicht zurückhalten und stellte die pointierte Frage:
    »Haben Euer Lordschaft vielleicht jetzt an den Weg gedacht, von dem meine Hausgenossen rühmen, er werde freiwillig und zu Fuß zurückgelegt?«
    Der Bischof gab keine Antwort. Seine Lider hatten sich gesenkt. Die Augen waren von violetten Schatten bedeckt, hinter welchen, ähnlich wie beim Geoarchonten, die astromentale Lebenstätigkeit des Schlafes zu arbeiten schien. (War auch sie nur eine weitere Entfernung von Gott?) Ich hatte mich erhoben und wollte schon auf Zehenspitzen aus dem Sephirodrom schleichen. Die sanfte Stimme des Priesters aber rief mich zurück:
    »Mein Sohn, wie es sich auch mit Ihrem ›Ich trinke, also bin ich‹ verhalten mag, bitte legen Sie Ihre Hand auf die meine, zu einem heiligen Versprechen.«
    Ich gehorchte und legte meine Hand ganz leise auf die seinige.
    »Versprechen Sie mir«, murmelte er, indem er sich umblickte, »versprechen Sie, daß Sie um Rat und Hilfe kommen werden,
wenn ein gewisses Ansinnen,
Sie verstehen mich, jemals an Sie gestellt werden sollte …«

Zwölftes Kapitel
    Worin mir der Jude des Zeitalters folgt, mich einlädt, bewirtet und mit seinem Sohn bekannt macht.
    Jede Welt und jedes Weltalter enthält neben einer geringen Minderzahl wahrhaft neuer Erscheinungen eine unberechenbare Mehrzahl von Wiederholungen, Abwandlungen und Widersprüchen. Die mentale Epoche machte keine Ausnahme von diesem historischen Gesetz, das in den Grenzen menschlicher Kombinationsfähigkeit begründet ist. Der Leser, der mich freiwillig bis hierher begleitet hat – ich beginne, in ihm schon einen hochgesinnten Freund zu sehen, der meine geistige Neugier ebenso teilt wie meine Verachtung für journalistische Mätzchen –, dieser Freund weiß nicht nur, daß, sondern auch warum die mentale Wohnkultur unterirdisch war und sein mußte, das heißt, sein wird und wird sein müssen. Trotzdem war ich gezwungen, schon eine ganze Menge Ausnahmen von dieser Regel anzuführen: das Schilderhaus des Geoarchonten, die Glaskuppel der Zusammenstimmer, die Schattenarchitektur, die das Geodrom umringte, die Privatkapelle des Großbischofs, ganz zu schweigen von der Lebensweise des Arbeiters und seines Clans, die sich durchwegs in freier frischer Luft abspielt, welcher kecke Übermut freilich im weiten grünen Park und in der Mulde der Quellen und Kräfte sich nicht nur als gefahrlos, sondern auch als kraftfördernd erwies. Dies aber, was ich jetzt sah, hatte ich nicht zu sehen erwartet, als ich aus dem großbischöflichen Palais über eine endlose, enge und steile Kellertreppe emporsteigend, endlich das Tageslicht erreicht hatte. Diese steile Kellertreppe, die aus asketischen Gründen die geistliche Macht zu erklettern gehalten war, entsprach genau dem niedrigen Schilderhaus, in welchem um der Demut willen die weltliche Macht des Geoarchonten oder Seleniazusen hausen mußte. Ich hatte den Großbischof eingehüllt von gramvollen Gedanken verlassen, wobei ich mir sein Geleite verbat und es auch verhinderte, daß er einen seiner Patres mit mir schickte, wußte ich doch genau, wie ungehörig es für ihn und seinen Klerus war, sich mit einem seltsam kostümierten Resultat spiritistischer Machinationen zu affichieren.
    Etwas atemlos von dem mühsamen Aufstieg stand ich auf der Erdoberfläche. Ich mußte eine ganze Weile meine Lider geschlossen halten vor dem erbarmungslosen Sonnenlicht, dessen ultraviolette Strahlungskraft, wie ich jetzt nicht mehr zweifeln konnte, sich seit der Transparenz vervielfacht hatte. Als ich sie wieder öffnete, traute ich meinen Augen kaum, denn ich stand vor einem ziemlich hohen, leeren Torbogen, auf dessen romanischer Rundung in breiten, mir wohlbekannten Lettern die Worte gemeißelt waren: »Ehemalige Unterstadt.« Der Boden war teils mit zersprungenem Asphalt, teils mit morschen Holzstöckeln, ja sogar mit Pflastersteinen bedeckt, zwischen denen der eisengraue Rasen durchbrach wie einst das grüne Unkraut. Manche Stellen waren gänzlich

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