Stern der Ungeborenen
neunzehnten, zwanzigsten Jahrhundert abspielte. Die Sorge um zehntausend verwahrloste, verlauste, rachitische Kinder beschwerte sein Herz, die in greulichen Baracken und Zinskasernen aufwuchsen und in den Jahren der Pubertät keine andre Wahl hatten als elende Lohnsklaven zu werden oder Huren und Gangster. Tuberkulose, Syphilis und moralischer Nihilismus zehrten am Mark der Jugend. Ganze Städte und halbe Generationen hatten die Kriege pulverisiert. Übriggeblieben war ein schwarzer Nebel von Haß und Vorwurf, wie niedergeschlagener Kohlenqualm der Hölle, der über den Völkern lag. Man lebte in einer Welt verschlampter Sackgassen. Die Eiseskälte des materialistischen Geistes machte es unmöglich, die kleinste Frage zu lösen, schon dadurch, weil sie von Beginn an falsch gestellt war. Und inmitten dieser geistigen und physischen Ruinenwelt mußte die Kirche und mußten ihre Priester für die Wahrheit kämpfen, und der letzte Papst, den ich kannte, der in Sankt Petri Reihe Pastor Angelicus hieß, schlief im dritten Stockwerk des Vatikans auf der nackten Erde, um Buße zu tun für meine Zeitgenossen. – Wie aber ist es jetzt, Euer Lordschaft? Ein Arbeiter und seine Familie ernährt die ganze Menschheit. Der Krieg ist nichts andres mehr als ein verwittert gespenstisches Denkmal, ein verrosteter Astrolab in einem Loch. Armut, körperliches und geistiges Elend sind zu mythologischen Begriffen geworden. Die Kirche hat nicht nur als Beweis ihrer übernatürlichen Gründung und Sendung die Äonen überdauert, sondern ihre ursprüngliche Einheit wiederhergestellt, eine Verwirklichung von Christi Voraussage, die mir meine ehemaligen Zeitgenossen am wenigsten glauben würden, dürfte ich ihnen davon berichten. – Und Sie, Hochwürdigster, Sie wollen nicht gelten lassen und leugnen mir in den Mund hinein, daß die Welt sich unendlich verbessert hat und übers Glaubliche hinaus fortgeschritten ist?«
»Was Sie Fortschritt nennen, bester Sohn«, sagte Seine Gnaden mit müder Stimme, »ist nur der verzweifelte Aberglaube, daß etwas, das fällt, in die Höhe fallen könnte.«
»Euer Lordschaft möge Nachsicht mit mir haben, der ich noch kein astromentaler Mensch bin. Dieses Paradox aber verstehe ich nicht ohne Kommentar.«
»Es ist kein Paradox«, sagte der Bischof, »sondern eine einfache Parabel.«
Er machte eine kleine Pause, ehe er, die Fingerspitzen gegeneinander stellend, die folgende Frage an mich richtete:
»Sind wir uns darüber einig, daß unsre Voreltern im Paradies gesündigt haben?«
»Das scheinen unsre Voreltern wohl getan zu haben«, erwiderte ich, »sonst müßte man nicht immer wieder von vorne anfangen.«
»Nun, wenn wir uns über dieses Erste einig sind«, fuhr der Großbischof fort, »so müssen wir uns auch über das Zweite, Dritte und Vierte einig sein. Wir sind uns also auch einig darüber, daß die ganze menschliche Geschichte die Geschichte der Folgen des Sündenfalls ist, das heißt die Geschichte der immer weiter fortschreitenden Entfernung von Gott. Mögen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Zustände noch so bejammerungswürdig gewesen sein, sie waren noch immer um hundert Abgründe, um hundert Jahrtausende besser als die heutigen, die Ihnen so sehr imponieren, mein Kind. Denn genau um diese Zeit sind wir tiefer gefallen und weiter von Gott entfernt.«
»Wie, Euer Lordschaft«, staunte ich, fast erbittert, »die gewaltige Anstrengung des Menschen, den Erzengelsfluch der Arbeit und der Zerstreuung zu überwinden, die Erde immer wohnbarer und sich selbst immer intelligenter zu machen, diese Anstrengung wäre keine Rückkehr, sondern ein immer kälterer und frecherer Abfall von Gott?«
»Die alten Zivilisationen, von denen Sie sprachen, mein Sohn«, entgegnete der Großbischof, »haben wenigstens das Leiden und den Tod auf sich genommen und damit dem Fluch des Erzengels Rechnung getragen. Die heutige Zivilisation aber, in der Sie sich bewegen, die sich selbst die astromentale nennt, ist der betrügerische und raffinierte Versuch, jenem Fluch durch tückische Machenschaften zu entgehen, jenem Fluch, der uns da befiehlt, das Brot der Erde im Schweiße unsres Angesichtes und mit Sorgen zu essen und demütig zum Staube zurückzukehren, der wir sind.«
Der alte Mann versank in schwermütiges, ja schmerzliches Nachsinnen, so daß ich eine lange Zeit nicht zu sprechen wagte. Hielt er wirklich die mentale Zivilisation für einen unerlaubten Versuch des Menschen, die Natur auf eigene,
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