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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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die zentrale Sünde meiner Zeitgenossen in tiefem Zusammenhang mit dieser Frage steht, die ich soeben an Sie gerichtet habe … «
    »Euer Lordschaft, ich will versuchen, eine Antwort auf Ihre Frage zu finden«, entgegnete ich bereitwillig, »obwohl ich selbst noch keine Zeit hatte, mir die Tatsachen meines Einschlafens und Wiedererwachens und dessen, was dazwischen liegt, klar ins Gedächtnis zu rufen. Ich hatte nicht nur keine Zeit dazu, sondern eine gewisse Scheu hielt mich zurück, darüber nachzudenken, bis vielleicht auf gestern abend, wo ich mich im Kampfe ums Wachbleiben dieser Frage in unkontrollierten Assoziationen näherte … Ja, es war eine große Scheu … «
    »Dann gehorchen Sie Ihrer Scheu«, sagte der Bischof, »und lassen Sie uns das Thema wechseln … «
    »Nein, nein, Señor Gran Obispo«, sagte ich voll Eifer, »einmal muß es doch geschehn, daß ich mit diesem Problem ins reine komme, und bei wem könnte ich mehr Vertrauen, Hilfe und Gnade finden als bei Euer Lordschaft … «
    Nach diesen Worten lehnte ich mich weit zurück, ließ unaufgefordert meine Schultern fallen, und es kam mir in den Sinn, wie merkwürdig es doch war, daß nicht nur ich dieses fremdartige Zeitalter erforschte, sondern letzteres vielleicht noch eindringlicher
mich.
Immer wieder stand ich vor derselben Schwierigkeit wie nach dem Festmahl in Io-Fagòrs Hause, wo ich darüber Bericht erstatten mußte, auf welche Weise unsereins einst die Zeit erlebt hatte. Und nun sollte ich gar vor diesem edlen und sanften Theologen und Kirchenfürsten über das Erlebnis, tot zu sein, Zeugnis ablegen, und zwar möglichst, ohne seine gläubigen Empfindungen zu verletzen. Das Merkwürdige war, daß ich in den ersten Minuten über den Zustand, tot zu sein, nicht nur nichts zu sagen wußte, sondern zu meinem Schrecken bemerkte, daß mein Geist wie gelähmt war. Aha, dachte ich, just relax. Nur kein Krampf. Man muß sich gehn und laufen lassen. Und dann stieg es langsam in mir zur Oberfläche, gleich den unterirdischen Flüssen des zerrissenen Karstgebirges:
    »Vor allem, Euer Lordschaft«, begann ich meinen Versuch, »dort ist das Einschlafen und hier ist das Aufwachen. Was dazwischen liegt, ist jedenfalls nicht das Nichts. Soviel kann ich ohne jede Schwierigkeit sagen. Was dazwischenliegt, ist eine Dauer. Wenn ich aber auf diese Dauer zurückblicke, die sich faktisch über mehr als hunderttausend Jahre erstreckt, so muß ich nach aufrichtiger Selbstprüfung gestehn: diese hunderttausend Jahre haben nicht etwa, wie die Laienwelt es sich vorstellt, einen zeitlosen Augenblick lang gewährt oder irgendeine Art von Ewigkeit; nein, in meiner subjektiven Empfindung betrug diese Dauer ungefähr fünf bis sechs Stunden …«
    Der Großbischof hob den Kopf, sah mich prüfend an, sagte aber nichts. Er hatte, im Gegensatz zu den milden Mondaugen des Geoarchonten, milde Sonnenaugen. Diese Augen gaben mir ein Zeichen, ich möge fortfahren:
    »Leider ist jenes Einschlafen«, drang ich weiter in meinem Versuch vor, »jener Actus Moriendi in meinem gegenwärtigen Bewußtsein ebensosehr verwischt wie der Vorgang des Aufwachens, von dem ich dem hochwürdigen Pater Exorzist in der Kirche auf Treu und Glauben berichtet habe, was ich weiß. Etwas in mir mutmaßt, daß ich ungefähr an derselben geographischen Stelle wieder ins Leben getreten bin, an der ich es verließ. Wie ich es aber verließ, ob unter Qualen oder in sanfter Loslösung, ob in einsamem Kampf oder Hand in Hand mit der geliebten Frau, das ist mir vollständig entfallen. Vielleicht ist das letzte Gefühl, das der Welt galt und an das ich mich erinnere, die Bestürzung, daß ich Schmerz bereiten muß und daß ich eine staubbedeckte, in falscher Ordnung zusammengeschobene Unordnung zurücklasse. Zugleich aber war in diesem Gefühl der Bestürzung etwas eitel Angenehmes, als sei das, was nun an mir und mit mir geschieht, eine Art von persönlicher Heldentat, für die mir eine erhöhte Anerkennung von seiten der Meinigen gebühre. Daran kann ich mich, oder glaube ich mich erinnern zu können. Was nun folgte, war ein Drama der Einsamkeit in mehreren Akten.«
    »Da sind wir nun bei der Einsamkeit«, nickte der Bischof, als kenne er die Melodie, und plötzlich schwante mir, daß ich ihm da gar nichts Neues erzähle, sondern von ihm einer Prüfung unterzogen werde, und zwar einer weit feineren und raffinierteren als jener, der mich der hochgestrenge Pater Exorzist unterworfen hatte. Ich aber ließ

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