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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Voraussetzung des Lebens, daß die Seele sich nicht an ihr Zuzweitsein mit Gott vor der Geburt und nach dem Tode erinnern kann? Ich halte es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß meine arme Seele während der letzten hunderttausend Erdumläufe um die Sonne an einem Orte der Pein geweilt haben mag, eine Existenzart, für die es keinen Vergleich und deshalb auch kein Gedächtnis gibt. Was mir wirklich geschah in den wenigen Stunden, zu denen die hunderttausend Erdumläufe zusammenschmolzen, alles dessen ich mich objektiv entsinne, und was ich als Erlebnis des Todes in mir behalten habe, war … Nun, der Gegenzug auf dem Nebengeleise war verschwunden, und nun setzte sich der eigene Zug, in dem ich selbst saß, in Bewegung, zum erstenmal. Wie soll ich’s nur ausdrücken, Euer Lordschaft? Ich selbst war das unendlich Regungslose, das unendlich Apathische, das unendlich Ruhende, das von einem unbeschreiblich Bewegten voll Ziel, Intention, Energie, ja geradezu voll Räderlärm ins Weite gefahren wurde. Es war so, als würde erst der Tote, dem nicht mehr die geschäftige Aktivität seines Körpers, Blutkreislauf, Stoffwechsel, innere Sekretion, Atem die Sinne verdumpft, von der vibrierenden Aktivität des Planeten und des ganzen Kosmos getragen werden …«
    Bei diesen Worten – ich war noch lange nicht zu Ende – erhob sich brüsk der Großbischof, und sein mildes Antlitz war sehr ernst:
    »Sie sind niemals tot gewesen, mein Herr«, und es klang beinahe verächtlich oder zumindest wie ein Vorwurf.
    »Aber wie wäre es dann möglich …« wandte ich ein. Eine müde Handbewegung brachte mich zum Schweigen:
    »Sie haben in Ihrer Darstellung des Totseins ganz richtig begonnen. Dann aber haben Sie trotz hinreichendem Tiefsinn und mehr als hinreichender Wortgewandtheit einen Zustand beschrieben, der prämortal ist und bleibt …«
    »Ich habe in jedem Wort die Wahrheit gesprochen, Euer Lordschaft.«
    »Sie haben zweifellos die Wahrheit gesprochen, lieber Sohn. Diese Wahrheit aber ist: Sie waren niemals tot.«
    »Wie aber komme ich dann hierher, ins Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau«, fragte ich ziemlich erstaunt, »in diese ferne mentale Epoche der Weltgeschichte, ohne vorher tot gewesen zu sein?«
    »Das müssen Sie mit sich selbst ins reine bringen oder, besser, mit Ihren Freunden«, meinte der Großbischof.
    Wir hatten uns wieder niedergesetzt. Ich trank langsam und den Duft genießend mein zweites Glas Wein aus:
    »Ich trinke«, sagte ich nachdenklich, nachdem ich das Glas abgesetzt hatte, »ich trinke, folglich bin ich.«
    »Diese Feststellung ist sehr berechtigt«, nickte der Großbischof, »aber auch ich trinke.«
    »Was wollen Euer Lordschaft damit andeuten?« kam es mir mißtrauisch über die Lippen.
    »Daß nur einer von uns beiden trinken kann, mein Kind.«
    Und er beugte sein bleiches Haupt, das keine Mitra mehr trug, sondern ein hellgrünes Prälatenkäppchen, so weit vor, daß er mir ganz nahe kam: und dann fügte er hinzu:
    »Ja, daß sogar nur einer von uns beiden träumen kann, er trinke, entweder Sie oder ich …«
    Eine Anwandlung von Wärme und Bewunderung für diesen Priester bewegte mich zu den Worten:
    »Ich weiß, daß von uns beiden nur Sie echt sind, Señor Gran Obispo.«
    Er betrachtete mich gramvoll, ehe er gestand:
    »Und ich wünschte mir von Herzen, daß ich nichts andres wäre als eine Ausgeburt Ihrer sträflich lebhaften Bilderflucht.«
    »Das heißt ja beinahe dem Valentinus und seinem Demiurgen ein Zugeständnis machen«, rief ich und sprang unmanierlichermaßen auf meine Füße. »Darf ein katholischer Fürst der Dritten, der spiritualen Kirche an seiner eigenen Realität zweifeln? Heißt das nicht den Pater Exorzist verstimmen? Ist die Überzeugung, daß diese Welt diese Welt ist, nicht die erste Grundlage des Glaubens?«
    Ein schwerer Blick des Großbischofs zwang mich in meinen Lehnstuhl zurück. Ich schlug mich selbst auf den Mund:
    »Vergebung und Erbarmen, Euer Lordschaft. Wer bin ich, daß ich solches zu reden wage? Ich wollte nur das Erstaunen eines Primitiven darüber ausdrücken, daß Euer Lordschaft mit einer unendlich verbesserten und fortgeschrittenen Welt unzufrieden zu sein scheinen, in welcher Sie das Glück haben, zu sein und zu herrschen.«
    »Unendlich verbesserte und fortgeschrittene Welt«, wiederholte der Großbischof in schleppender Kadenz.
    »Euer Lordschaft mögen bedenken«, nahm ich das Wort, »wie sich der Tag eines Erzbischofs zu meiner Zeit, im

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