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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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und beim Betreten der chronosophischen Elementarklasse vom Kleinen Intermundium fast nichts und von den größeren Intermundien überhaupt nichts wußte. Ich erwähne diesen Umstand nur, weil es für mich selbst einen peinlichen Nachteil, für den zweifellos viel gebildeteren Leser jedoch einen angenehmen Vorteil bedeutet, daß ich nicht imstande bin, ihn mit wissenschaftlichen Erörterungen und Weitschweifigkeiten zu langweilen, sondern mich in meinem Bericht einzig und allein auf die faktischen Erlebnisse meiner armseligen Sinne beschränken muß. Ich weiß genau, daß diese meine Unwissenschaftlichkeit ganz und gar unziemend ist, aber ich will nichts verheucheln. Arme Leute kochen mit Wasser. Ich bin daher gezwungen, von meinem Besuch im interplanetaren Raum nicht anders und nicht gelehrter zu plaudern wie etwa von einem Sonntagsausflug in die Umgebung meiner Heimatstadt, Anno Dazumal, mit Wagen und Pferd.
    Unter den Schuljungen der Klasse, der ich nun selbst angehörte, wurde der Jüngste, Kleinste, Hübscheste und Grazilste bei dem gutmütigen Spitznamen Io-Knirps gerufen. Trotz alles Ernstes und aller Feierlichkeit, die unser Lehrer im Weltraum mit Recht gewahrt zu wissen wünschte, bediente auch er sich desselben Spitznamens, obwohl er in seinem Munde mehr wie ein Kosewort klang. Der Kleine mit seinem lichten aufmerksamen Gesichtchen und seltsam kugelrunden Kopf war nämlich sein ausgesprochener Liebling, und zwar hauptsächlich darum, weil er als Muster und Meister im »Kometenturnen« gelten mußte.
    »Sind Sie in Bereitschaft, Io-Knirps«, zischte des Lehrers tonlose Stimme, und dann folgte eine kurze Erklärung, die ohne Zweifel an B. H. und mich gerichtet war, diese beiden Unbelehrten, die aus der Tiefe der Zeiten kamen und doch weniger Ahnung von der Zeit hatten als irgendeiner der chronosophischen Pennäler hier. Jeglicher Körper, erfuhren wir, der sich im Himmel, das heißt außerhalb der sideralen Schwerkräfte befinde, sei so eo ipso ein Himmelskörper. Es bleibe uns allen daher unbenommen, nein es sei eine blanke Notwendigkeit, die Gestalt von Himmelskörpern anzunehmen. Die einzige Gestalt freilich, die für uns in Betracht komme, sei die der Kometen, der schweifenden und geschweiften Sterne.
    Hundertsechzig Pfund irdischer Materie, die Hälfte davon, das Viertel, das Zehntel, das Hundertstel, reiche vollkommen hin, um einen stattlichen Kometen abzugeben, mit leuchtendem Kopf und einem Schweif von Millionen Kilometern. Da wir aber nicht nur Materie seien, sondern auch Geist und Wille, so könnten wir unsere Himmelskörperlichkeit frei bestimmen, ihre Ausdehnung und ihre Zusammenziehung, ohne Gefahr zu laufen, in den interstellaren Raum geschleudert oder unerwünschter Weise als Meteor von einer planetaren Schwerkraft abgefangen zu werden. Wir könnten in jeder Richtung nach Wunsch spazieren, meinte der Lehrer. Auf dieser erhabenen Harmonie der Freiheit zwischen Materie, Geist und Wille sei von den Begründern der Chronosophie die wichtige Kinderdisziplin des Kometenturnens errichtet worden.
    »Da wir heute hohe und sehr fremde Gäste mit uns haben«, schloß der Lehrer, »wollen wir in keine Extravaganzen verfallen, merken Sie sich das, Io-Schram und einige andere noch. Wir wollen uns daher nicht über die bescheidene Länge des doppelten polaren Erdradius ausdehnen, welche beträgt, Antworter Rar …?«
    » 12   713  Kilometer«, kam die Antwort des Antworters prompter als sonst.
    »Weniger 200  Meter«, nörgelte der Lehrer mit dem Gezisch einer widerspenstigen Dampfheizung. »Faule Witze und keine Präzision. Bessern Sie sich Io-Rar.« Er machte nach Lehrerart eine Pause, um der Zerknirschung des Vorzugschülers Raum und Zeit zu geben, sich zu entwickeln. Dann durchdrang seine stimmlose Stimme wiederum die Resonanzlosigkeit rundum, nur etwas ermunternder als vorher:
    »Und nun los, lieber Knirps!«
    Das Graue Neutrum, in dem wir – ich finde kein treffenderes Zeitwort – in dem wir unseres Da-Seins bewußt waren, schien jenem Terrain zu ähneln, das man in der Taktik des Infanteriefeuergefechtes den toten Raum nennt, nämlich jenen Teil des Zielfeldes, der von den Projektilen nicht bestrichen werden kann. Mit anderen Worten, dort wo ich war, ohne zu wissen, wo oben ist und unten, vorne und hinten, dort war ein ausgesparter Raum, ein abseitiger Winkel, den die nahen Strahlen der Sonne und die fernen Strahlen der Sterne nicht trafen. Das hatte zur Folge, daß man nicht nur nicht die Hand

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