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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Augen.«
    Zwei brave Stimmen hinten:
    »Jawohl, Herr Lehrer, wir bleiben in der Nähe.«
    Nun tauchte auch der Lehrer unter und verschwand, da er sich auf seine Pritsche auf dem Kathederpodium ausstreckte. Zugleich aber schien er die Beleuchtung ausgeschaltet zu haben. Denn aus dem regnerischen Alltagslicht, welches das Schulzimmer bisher erfüllt hatte, war Finsternis geworden, eine ganz gewöhnliche Zimmerfinsternis übrigens. Das nächste Ereignis war zunächst noch immer nicht ganz ungewöhnlich.
    »Die Lager der Ruhe und Bewegung« nämlich, auf denen wir ausgestreckt lagen, begannen langsam vorwärts zu rollen. Wir fuhren durch die ganz gewöhnliche Zimmerfinsternis, als gäbe es hier keine abgetrennten Räumlichkeiten und keine Wände mehr, die uns Widerstand leisteten und Grenzen setzten. Ich tastete nach B. H.’s Hand. Sie bewegte sich neben mir.
    »Siehst Du«, sagte ich, ein wenig triumphierend, »es ist und bleibt ein Gefahrenwerden, und der Großbischof meint, ich sei gar nicht gestorben …«
    »Warten wir’s ab, F. W.«, sagte B. H. »Ich glaube übrigens, wir werden nicht gefahren, sondern wir werden geflogen, was doch etwas ganz anderes ist …«
    Kaum waren diese Worte gesprochen, als unsere Lagerstätten allerlei Kapriolen auszuführen begannen. Ihr Tempo beschleunigte sich beängstigend und verlangsamte sich nicht minder beängstigend. Wir beschrieben wilde Kreise und Schraubenlinien, fuhren strack in die Höhe, sausten jach in die Tiefe wie auf den Scenic railways der Rummelplätze. Ich hatte aber das ganz bestimmte Gefühl, weiß Gott warum, immer wieder auf denselben Platz zurückzukehren, oder besser, trotz der erregtesten und labyrinthischsten Fortbewegung nicht vom Platze zu kommen.
    Trotzdem konnte ich nicht unterscheiden, ob’s ein Gefahren- oder Geflogenwerden war. War’s eine Fahrt, so erfolgte sie jedenfalls ohne die geringste materielle Reibung. Man spürte weder den Erdboden unter dem Vehikel noch den Luftzug, den unsere Bewegung hervorrufen mußte.
    Es war sehr ähnlich wie die große Todesfahrt, die ich vor Unzeiten kennen gelernt hatte. Nur um meine Stimme zu hören, sagte ich zu B. H.:
    »Geht’s hier nicht zu wie im Grimmschen Märchen, wo Hans das Gruseln lernen will? Das Bett fährt und fährt …«
    Ich wunderte mich, daß ich diese Worte nur mit atemlosen Keuchen hervorstoßen konnte. Die Stimme des Lehrers knapp vor mir aber war ganz ruhig:
    »Was ist die chronosophische Übung Groß Eins, klein a? Geben Sie Antwort, Antworter Io-Hol.«
    Prompt und klar erscholl’s aus dem Munde des Vorzugsschülers dicht hinter mir:
    »Übung Eins, klein a: Verwirrung des Raumsinns …«
    Dies aber ist keine gewöhnliche Finsternis mehr. Gott weiß, ob wir uns in einem Schulzimmer befinden. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Von Zimmerfinsternis jedenfalls kann man nicht mehr sprechen. Die gewöhnliche Zimmerfinsternis ist ja nichts anderes als eine zeitweilige Abblendung wohlbekannter Raumverhältnisse. Sie ist gar keine wahre Finsternis, sondern nur eine Verdunkelung, ein Blackout. Dies gilt auch für die tiefste irdische Nacht, die sich ja nur auf die relative Abwesenheit des fortbestehenden Sonnenlichtes gründet. Zwischen irdischem Dunkel und wirklicher Lichtlosigkeit herrscht übrigens derselbe Unterschied wie zwischen dem menschlichen Tod und dem wirklichen Nichtsein, was ich unbedingt dem Großbischof noch hätte auseinandersetzen müssen.
    Hier jedoch, wo ich mich jetzt befinde, ist zweifellos etwas von der allerersten Finsternis, das heißt Lichtlosigkeit, zurückgeblieben, die war, ehe die Schöpfung war. In dieser Lichtlosigkeit gibt es nicht rechts und links, nicht oben und unten. Übung Groß Eins, klein a scheint völlig gelungen zu sein. Sollte mich der Herr Lehrer jetzt fragen: »Schüler F. W., wo ist Ihre rechte Hand?« Ich würde lange und tief über dieses Problem nachdenken müssen. Links trage ich jedenfalls die Ehrenschleife, das ist das einzige, was in meinem Bewußtsein feststeht. Aber warum liege ich nicht ausgestreckt wie zu Beginn der Verdunklung? Es ist doch lebensnotwendig, daß ich liege, auf der Schlafbank, auf der schmalen Pritsche, auf dem Lager der Ruhe und Bewegung, sonst falle ich doch hinunter ins Nichts. Nein, ich bin von der körperlichen Überzeugung erfüllt, daß ich ebenso leicht in die Höhe stürzen könnte wie in die Tiefe. Am meisten beunruhigt es mich, daß mein Rücken nichts berührt. Doch ich habe noch mehr Grund zur

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