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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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dann steigt es auf, die Scheibe, nein die Kugel, und immer mehr Kugel oder Sphäroid, denn wir sehen plastisch, wir kometartigen Himmelskörper.
    »Maria Magdalena«, flüstern die chronosophischen Schuljungen, die nur schaukelnde Lichtstriche sind. Und plötzlich können die Stimmen ihrer Leichtköpfchen im Leeren eine tiefinnere Atemlosigkeit zischend zum Ausdruck bringen.
    »Fest zusammenhalten und strecken«, mahnt der Lehrer; die verführerische Schwerkraft des aufziehenden Venusplaneten könnte manch einen der Schüler aus dem Grauen Neutrum locken. Obwohl wir größer sind als der Durchmesser der vorbeigleitenden Königin, überwächst sie den ganzen Raum und füllt einen Augenblick lang unser ganzes Blickfeld aus. Maria Magdalena, Venus und früher Astaroth, ihr Licht ist unendlich gedämpft und daher so büßend, so geisterhaft entsagend. Maria Magdalena hat den Schleier genommen. Sie läßt nichts von ihrem Körper blicken. Wir sehen nur das dichte weiße Gewölk, den undurchlässigen Wasserdampf ihrer Atmosphäre, in den sie sich ewig hüllt. Dieses Gewölk, ihr erhabenes Faltenkleid, ist unruhig, wallt vielgestaltig durcheinander, als litte der Sternenleib unter ihm bittere Schmerzen. Einzig und allein am verwischten Rande des Sphäroids erhellt sich das dampfige Geisterlicht zu einer Ahnung goldener Nacktheit.
    Als ich, ein Knabe von sechs Jahren, zum erstenmal das Meer sah, erlitt ich einen Ohnmachtsanfall. Als ich ein Jahr später zum erstenmal einen Gletscherberg vor mir hatte, hielt ich mir die Augen zu. Jetzt aber, da ein Planet ganz nahe an meinen Blicken vorüberzog, den Weltraum vor mir vollständig ausfüllend, da begann ich zu zittern. Ich war ein schwacher, unermeßlicher Strich und zitterte an meiner ganzen Länge. Da ich aber trotz allem auch Augen und Herz und Nerven hatte, brach ich zudem in ein unbeherrscht wildes Schluchzen aus.
    Ich konnte nichts dagegen tun, so sehr ich mich bemühte, denn bald bemerkte ich, daß nicht eigentlich ich weinte. Was in mir Gottes war, weinte sich aus süßester Erschütterung und in ungeheuerlichem Entzücken über die Schöpfung, und weil sich selbst in Sternen fühlsam unterscheiden ließ das Männliche und Weibliche.
    Alles bisher Erlebte wäre für den Skeptiker noch immer kein strikter Beweis meiner körperlichen Anwesenheit im Kleinen Weltraum. Die nächsten Ereignisse meiner chronosophischen Schulstunde aber werden es ihm bereits schwerer machen, zu behaupten, daß ich mit Lehrer und Klasse den Djebel nicht wirklich verlassen habe. Doch sei’s wie es sei, noch einmal wiederhole ich: die Sichtung, Scheidung, Deutung und Erklärung der mentalen Errungenschaften ist nicht meine, des blutigen Laien, Sache, sondern die Aufgabe von Fachgelehrten. Vergessen wir aber keinesfalls die unveränderliche Grundformel, auf der sich die Praxis aller Zivilisationen aufbaut, von der primitivsten bis zur astromentalen: höchstmögliche Allgegenwart des Menschen bei geringster körperlicher Abnutzung. Unantastbar bleibt das Faktum bestehen, daß der Lehrer mit uns Schülern in erwünschter Ausweitung des Kometenturnens den Boden zweier Planeten betrat, den Boden von zwei herrlichen Himmelskörpern, deren Umlaufbahnen nicht nur Millionen und Millionen von Kilometern weit auseinanderlagen, sondern die auch höchst gegensätzlicher Charakternatur waren. Ich kann nicht sagen, wodurch es möglich war, daß wir innerhalb einer einzigen Schulstunde Räume überwanden, die zu durchmessen ein Raketenflugzeug mit etwa tausend Kilometern Stundengeschwindigkeit mehrere Jahrzehnte gebraucht hätte, ebenso wenig wie ich sagen kann, warum unsere federleichte Ausrüstung genügte, die grausige Kältetemperatur und den Atmosphärenmangel des Niederen Intermundiums so leicht zu überstehen wie eine frische und doch milde Frühlingsnacht, ganz zu schweigen von der Flammenhitze jenes Aufenthalts, den wir in einigen Minuten beziehen werden. Nichts interessiert mich weniger, nichts liegt mir ferner als die Verfassung einer Jules Verneade. Ich erzähle ja auch von einer astromentalen Welt und nicht von einer technisch-materialistischen wie der genannte Franzose. Ich erzähle, was mit mir geschah, und wie ich es erlebte und nicht mehr. Wir müssen aber stets im Gedächtnis behalten, daß gerade dasjenige, was uns Leuten aus den Anfängen der Menschheit so schwer begreiflich ist, den Inhalt und Endzweck der chronosophischen Lehre bildete, wie sie die mentalen Meister im Djebel vermutlich seit

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