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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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habe das nicht selbst ausgerechnet. Die Schüler Io-Rar und Io-Hol behaupteten es, welche immer wieder dem Herrn Lehrer Rede und Antwort stehen mußten, der sie wegen ihrers Hanges zur Ungenauigkeit bitter tadelte. Ich hatte wahrhaftig eine fürchterliche Freiheit in meiner Gewalt. Angenommen, unser Standort (man entschuldige den schiefen Ausdruck) im Grauen Neutrum befände sich auf der Höhe des Erdplaneten, so hätten wir, die Schuljungen der chronosophischen Unterklasse, B. H. und ich, die Reise mitten in den Sonnenball in 192 Erdminuten zurücklegen können.
    Nun, unser Standort im Grauen Neutrum lag, ohne daß ich’s wußte, dem Quell alles Lichtlebens noch viel näher, wenn auch unsere Reise, tour retour, so atemberaubend sie war, sich in bescheideneren Grenzen halten sollte. Das Merkwürdigste aber, was mir vom Kometenturnen in Erinnerung geblieben ist, war eben jenes doppelte Körperbewußtsein, das ich weiter oben schon angedeutet habe.
    Obwohl die feste, gute, dicke Materie, aus der ich bestand, sich für irdische Sinne fast bis zur Verflüchtigung verdünnt hatte, fühlte ich mich doch herrlich beisammen. Ich fühlte mich sogar noch besser beisammen als während meiner Unsichtbarkeit am gestrigen Tage, als ich B. H. in der mentalen Welt zuerst begegnet war. Mit hundertsechzig Pfund Körperlichkeit so lang wie die Erdachse, versuchte ich zu husten und zu reden, und siehe da, es gelang mir ebenso gut wie allen anderen.
    Da befiel mich wieder der Verdacht, wie er mich noch einigemal befallen sollte, ich sei nur das Illusionsopfer einer mentalen Veranstaltung und befinde mich inmitten komplizierter Spiegelungen in der Tiefe des Djebels, Spiegelungen, welche das Intermundium ohne viel Mühe auf die Erde niederzwingen. Fast wäre ich meinem Verdachte erlegen und hätte unvernüftigerweise ihn ausgesprochen, hätte nicht das göttlich schöne Ereignis, das jetzt folgte, jeden Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was wir nun erleben werden, bis auf den Grund vernichtet. Nicht einmal der berechtigte Einwurf, daß ein kometartiger, zu umschweifender Bewegung verpflichteter Himmelskörper nicht einfach faul auf dem Raume liegen kann wie ein Baumstamm auf stehendem Wasser, kann mich vom Gegenteil überzeugen. Hatte nicht der Lehrer immer wieder auf den »freien Willen« des Chronosophen hingewiesen, der in jeder Richtung spazieren oder ruhen darf, da er ja Geist vom Geiste ist?
    Es begann mit Musik. Wenn freilich Musik das ist, was sie ist, nämlich die tönende Organisation des Zeitablaufs, wie ihn der Mensch erlebt, dann war es weniger und doch viel mehr als Musik. Es war die tönende Organisation des Zeitablaufs, wie sie ein Planet erlebt. Man stelle sich vor: Unzählige Bienenschwärme, deren dumpfes Sommersummen sich nähert. Nein, zu wenig. Man stelle sich vor: das heranpfeilende Zirpen von Oktillionen von Grillen. Nein, zu einseitig. Man stelle sich vor: Ein stimmendes Orchester, in dem zehnfach so viel Musiker sitzen, als es lebendige Wesen gibt, und jeglicher, in sich versunken, bläst, fiedelt, dudelt seine eigenen Passagen, seine selbständigen Phrasen. Die obere Tongrenze der Instrumente ist nicht etwa mit Pickelflöte und Es-Klarinette abgeschlossen, sondern setzt sich unendlich hoch über das hörbare Tonspektrum fort. Und ebenso nach unten die Brummbässe unendlich tief unter dem Schwingungspendel der Kontrafagotte und Kontrabaßtuben. Ein stimmendes Orchester ist das Chaos, das der Erlösung wartet. Es gibt nichts Spannenderes. Wie aber, wenn die Erlösung ins Chaos eingesprengt ist, die unbegreifliche Ordnung in die scheinbare Unordnung? Wie, wenn das stimmende Weltenorchester nach Noten spielt, und zwar Hunderttausende von Symphonien gleichzeitig und gleichräumig? Ach, vergessen wir all diese Vergleiche, die doch nur Vergleiche sind und daher ohnmächtig. Hören wir ihn heransummen, den chromatischen Riesendonner, der alle Register der akustischen Natur zieht und doch nicht laut ist, sondern höchstens zum vollen Mezzoforte sich steigert, doch trotz seiner niederschmetternden Größe niemals jenen verschleierten Adel verliert, den nicht einmal der ahnte, welcher das Wort »Harmonie der Sphären« erfand. Und diesem sanft göttlich sich nähernden Braus von Pedal zum Diskant entspricht genau die sichtbare Erscheinung, wie sie jetzt auftaucht am Rande des Grauen Neutrums und majestätisch auf uns zuwächst. Zuerst ist es ein Heroldschein ganz matten Silberlichtes, der das Nichts durchadert. Und

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