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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vor den Augen sah, sondern daß die Idee des Sehens überhaupt, welche ja notwendig an die Vorhandenheit von Licht gekettet ist, zum baren Unsinn wurde. Da die menschliche Seele und gar die meinige, wie wir schon allzu oft bemerkt haben, sich mit charakterlosem Fanatismus den jeweiligen Lebensbedingungen anpaßt, so hatte ich hier im Grauen Neutrum die Existenz des Lichtes beinahe schon vergessen. Um so wohliger erstaunte ich jetzt, als sich allgemach vor meinen Augen ein kaum merklich schwaches und lindes Phosphoreszieren zu entschleiern begann. Es war die Kopfkugel des Knirpses, die diesen Hauch von Licht ausstreute, in welchem man die zierliche Gestalt des Knaben immer deutlicher wahrnehmen konnte, wie sie mit tänzerisch ausgestreckten Armen und gräziös gekreuzten Beinen um sich selbst wirbelte wie ein Kreisel. Aus welchen Materalien unsere Raumtauchergewänder und Kopfkugeln bestanden, das war mir, wie schon erwähnt, unbekannt. Es mußten jedoch die richtigen Materialien sein, denn siehe da, mit einem jähen Ruck zog sich die Gestalt des hübschen kleinen Wirblers in die Länge, wurde zu einem Strich, wurde schließlich zu einem matten Strahl, der von einem Ende des Grauen Neutrums bis zum andern reichte, ohne anzufangen und aufzuhören. Ich konnte den reizenden Knirps nicht mehr überblicken, da er sich auf Anordnung des Lehrers in die Länge von 12   713  Kilometern weniger 200  Meter gezogen hatte, und ich selber noch immer nicht länger war als rund 1 , 69 , sollten außerhalb der irdischen Schwerkraft Maße mehr Bestand haben als Gewichte. Das also war das Kometenturnen, das Kleinkinderexerzitium der Chronosophen. Welche Übungen und Leistungen hatte man angesichts dessen von den fortgeschrittenen Jahrgängen und gar von den Meistern zu erwarten. Beim Anblick des so einfach im Handumdrehen in einen matten Strahl verwandelten Knirpses erfaßte mich selbst ein kosmischer Übermut (im Gegensatz zur kosmischen Angst vorher), ja eine prickelnde Naschhaftigkeit nach astralen Erfahrungen ohne Beispiel. Ohne es recht zu wissen und zu wollen, begann auch ich mich um meine eigene schiefgeneigte Achse zu drehen, mit melodisch ausgestreckten Armen und gekreuzten Beinen. Einige Beifallsrufe der Klasse erreichten noch mein Ohr, dann aber riß mich meine völlige Schwerelosigkeit zu einer Umdrehungszahl hin, die mich für einige Augenblicke des Bewußtseins beraubte. Als ich zu mir kam, war auch ich ein unendlich in die Länge gezogener Strich, ein matter Strahl mit einem Leuchtköpfchen, der sich auf dem stehenden Raum des Grauen Neutrums wiegte wie ein Baumstamm auf einer Lagune.
    Muß ich dem phantasievollen Leser den Genuß beschreiben, ein Strahl zu sein, das heißt ein kaum mehr materieller Strich von leuchtender Energie? Nein, ich bin überzeugt, der Leser empfindet den Genuß mit mir. Das Sonderbarste und Wichtigste aber war, daß die Verwandlung meiner Gestalt, daß die schier unendliche Verdünnung der Körperlichkeit, aus der ich bestand, nichts an meinem Bewußtsein, ja nicht einmal etwas an meinem physischen Selbstgefühl geändert hatte. Ich war in dem Binnenbewußtsein meiner selbst genau derselbe wie vorher, was schon etwas heißen will, wenn man die ungesicherte Art meiner Erscheinung bedenkt, seitdem sie in dieses mentale Zeitalter aus irgendeinem Tor getreten war.
    Nicht ich schien mich verändert zu haben, sondern die Leere, auf der ich als Himmelskörper neben den andern Himmelskörpern meiner Mitschüler lag, und die wir erst durch unser Liegen und Leuchten zum Raume voll Richtungen machten. Mein Schimmerkopf in der glasartigen Kugel schwamm jetzt dicht neben dem von Io-Knirps, der allerlei Evolutionen ausführte, die ich nachzuahmen suchte. Immer mehr Striche und Strahlen mit glimmenden Stecknadelköpfen tauchten auf. Die chronosophische Hauptübung, Kometenturnen genannt, war in vollem Gange.
    Auch ich, dem Beispiele Knirpsens folgend, zog mich mehrere Male mit der Geschwindigkeit des elektrischen Stroms zu meiner normalen Gestalt zusammen und zu meiner himmelskörperlichen Gestalt auseinander, durch jede dieser Übungen meine chronoelastische Fähigkeit vermehrend. Als dünne kometartige Striche waren wir eine Abart des Sonnenlichtes, ungefähr den vierundzwanzigsten Teil einer Lichtsekunde lang. Wir konnten uns also mit einer Geschwindigkeit durch das Graue Neutrum bewegen, die nur vierundzwanzigmal geringer war als die Geschwindigkeit eines Sonnenstrahls.
    Nur keinen Argwohn bitte. Ich

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