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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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worden wie Kuchenteig. Mir war’s, als könnte ich meine beiden symmetrischen Hälften in der Art einer Omelette zusammenlegen. Mochte dies nun wahr sein oder nur eine Einbildung, es gelang mir jetzt durch eine gewaltige Kraftanstrengung, mit kurzen und eidechsenhaft gespreiteten Armen mich aus der Grube herauszuarbeiten, die mein Fall in den rostroten Eisenmorast gebohrt hatte wie in ein Gummiluftkissen. Und wirklich, kaum hatte ich mich aus der Vertiefung herausgewunden, als sie sich mit einem schmatzenden Knall wieder füllte und ihrer Umgebung anglich. Ich verhielt mich einen Augenblick still, um hochaufatmend neue Kräfte zu sammeln, dann aber warf ich mich, mein ungeheures Gewicht, mit einem wohlberechnenden Schwung nach rechts, überwand den toten Punkt und kam auf den Rücken zu liegen. Das Glück wollte es, daß ich durch die Gewalt des Schwunges und meine eigene Schwere eine Bodenneigung oder Böschung herabrutschte und zum Schluß in einen recht bequemen Winkel zu verharren kam, den Kopf oben, die Füße unten und einen weiten Rundblick vor meinen Augen.
    Trübe novembrige Dämmerung herrschte. So wenigstens glaubte ich anfangs, indem ich die Tageszeit irdischer Erfahrung gemäß als »vor Sonnenauf- oder nach Sonnenuntergang« bestimmte. Doch wie bald sollte ich meinen Irrtum erkennen. Das, was mir als graueste aller grauen Dämmerung erschien, war volles joviales Tageslicht. Der ungeheure, gänzlich fremde Himmel des Apostel Petrus war mit ebensolchen ungeheuren und gänzlich fremden Wolken bedeckt. Diese Wolken, meist braunrot oder schmutzig violett und sehr hoch oben, jagten in einer rasenden Sturmbraut dahin, die in den höheren Schichten der Jupiteratmosphäre herrschte. Das Wort »jagen« ist eine äußerst matte und blasse Metapher, denn die Bewegung der Wolken war so geschwind, daß man sie mit dem Auge gar nicht verfolgen konnte; dabei verwandelte sich das Gewölk und gestaltete sich um in demselben Rhythmus, der es dem Auge unmöglich machte, die Übergänge zu verfolgen. Heute nehme ich an (in aller Bescheidenheit des wissenschaftlichen Laien), daß dieser von mir mit unwiederholbaren Gefühlen erlebte Sturm und dieses schwindelerregende Wolkenjagen zusammenhängt mit dem Rotationstempo des gigantischen Himmelskörpers Jupiter, der nur zehn Stunden braucht, um sich um seine Achse zu drehen, während die tausendfach kleinere Erde sich dazu volle vierundzwanzig Stunden Zeit nimmt. Der unausdrückbare Sturm herrschte natürlich nicht nur oben, sondern auch unten, als Echo wenigstens. Er bildete gleichsam den grundsätzlichen Atmosphärenzustand auf Petrus, dem Apostel. Dadurch aber, daß auf dem endlosen, rostroten Morast nichts, aber auch gar nichts da war, was dieser Sturm ergreifen, schütteln, zausen konnte, machte er sich mir nur durch das Medium der schiefen, peitschenden, projektilartigen Regenstriche bemerkbar. Nein, dies ist nicht ganz richtig, etwas war da in diesem rostroten Morast aus ungefestigtem Eisen: Ich war da. Mein Körper war da. Dieser Körper aber war so schwer, daß er, der Geschwindigkeit des Windes die Verhältniszahl seines Gewichtes entgegensetzend, diesen Wind nicht einmal so stark empfand als eine normale irdische Unbill, ganz davon zu schweigen, daß er durch das Raumtauchergewand vor jeder fühlbaren Attacke vollkommen geschützt war. Der Sturm offenbarte sich somit nur in jenem oben beschriebenen Wolkenjagen und in einem unablässigen Sausen und Heulen, das aber als beständiger Orgelpunkt kaum zu Bewußtsein kam.
    Ich überblickte nur einen Teil des Himmels, unter dem ich auf meiner Plastilinwelle fixiert war. Dann und wann wurde der Regen schwächer. Einmal zerriß sogar das Gewölk für einige Zeit, weil der ewige Sturm Jupiters aus unbekannten Ursachen eine andere Richtung genommen hatte. Ein ziemlich umfangreiches Binnenmeer von preußisch-blauem Dämmerhimmel (nicht Nacht, nicht Tag) offenbarte sich da, und mitten in diesem Binnenmeer stand die Sonne. Was aber war aus dem goldenen Vlies geworden, der Wolle aus Weißglut, welches ich in derselben chronosophischen Unterrichtsstunde, die noch nicht zu Ende war, auf Johannes Evangelist betrachtet hatte, bebend und mit einem unterdrückten Winseln in der Kehle? Wo war der berstende Riesenschild, wo der Orkan lodernder Lebenstätigkeit, der vor Gott und sich selbst das große Drama aufführte, dessen Titel heißt: »Ich bin«? Wie, dieses kleine, schwache Fahrradlaternchen dort sollte die Sonne sein? Sie war es.

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