Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Autorität, an die Fürsorge und das überlegene Können unseres Lehrers, der uns bisher so sicher durch das Niedere Intermundium gelenkt hatte. Unter der Führung eines so alten und erfahrenen chronosophischen Pädagogen war es ausgeschlossen, daß irgendwem, der sich unter seiner Obhut befand, ein kosmischer Unfall zustoßen konnte. Zweifellos mußte der Lehrer in Kürze auftauchen und B. H., mich sowie seine ganze Klasse zusammentrommeln, die wir im Niederfall nicht genug Disziplin gehalten hatten, um dicht beieinander zu bleiben. Wie aber, wenn wir im Niederfall einen »Streukegel« gebildet haben, gleich den Füllkugeln eines explodierenden Schrapnells? Das zuckte mir in Erinnerung an meine Kriegszeit durch den Kopf. Dann lagen wir wohl Hunderte oder gar Tausende Meilen auseinander. Diesen Gedanken verjagte ich aber sofort, voll darauf vertrauend, daß kein verantwortungsbewußter Lehrer seine Schulkinder jemals einer ähnlichen Gefahr aussetzen und daß keine vernünftige Schulbehörde, geschweige eine Lamaserie, dem Vorstand einer Kleinknabenklasse solche Freiheiten über Leben und Tod einräumen würde. Nein, das ist kein Schiffbruch, dachte ich, mich selbst ermutigend und ermunternd. Dann versuchte ich meinen Kopf zu heben.
    Zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir nach einigen Versuchen. Es war erstaunlicherweise etwas eingetreten, wessen ich mich nicht versehen hatte, was aber darauf hinwies, daß ich mich hier unten in dieser prekären Lage schon längere Zeit befand als nur einige kurze Jupiterminuten. Wie sich nämlich der Johannes Evangelist, als ich mich auf seinem Mare Plumbinum tummelte, meines Körpers durch assimilierende Merkurisierung zu bemächtigen begann, so tat es ähnlich der tausenfach gewaltigere Apostel Petrus, indem er mich langsam jovisierte. Diese Jovisierung äußerte sich nicht nur im Agio der Schwerkraft, von der wir schon wissen, das will heißen in der Umwertung meines Gewichtes auf die hiesigen Verhältnisse, sondern auch in einer Gegenmaßnahme der Natur, welche den Widerspruch zwischen dem Übergewicht und der unzulänglichen Körperkraft in Balance zu bringen suchte. Oh wie verehrte ich, da ich ihn so wohltätig an mir selbst erlebte, diesen heiligen Trieb zur Kompensation, diesen unbeirrbar der Schöpfung eingeborenen Willen, immer und überall das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, einen der göttlichsten, der gottgewissesten Züge des Lebens. Gründet sich auf dem elektromagnetischen Gesetz der Anziehung und Abstoßung das Leben des Stoffes, so auf dem Gesetz der Kompensation, der Wiederherstellung des Gleichgewichts, das Leben des Geistes, als welcher der große Friedensstifter ist in der Natur. Die Gegenmaßnahme der kompensierenden Kräfte hier bestand darin, daß mein Körper plötzlich einer neuen ganz und gar unerhörten, ja einer höchst wunderlichen Weichheit und Geschmeidigkeit bewußt wurde. Meine eigene Körpersubstanz schien die plastilinartige Hochverwendbarkeit der jovialen Substanz annehmen zu wollen. Ich konnte z.B. mit meinen Armen und Beinen Wellenlinien beschreiben, was mir einigen Spaß bereitete. Die normale Steifheit des Knochenbaus war aufgehoben. Nicht nur wurde es mir leicht, den Kopf zu drehen, zu heben, ihn beinahe kreisend hin und her zu wenden, mehr als das, meinem ganzen Körper war plötzlich die kriechende und kraulende Fortbewegung geläufig, als hätte ich von Kind auf keine andere geübt. Wahrscheinlich entsprach diese Bewegung am besten den physikalischen Verhältnissen, die gegenwärtig im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau auf der sich langsam konsolidierenden Oberfläche des Petrusplaneten herrschten. Hätte es nach irdischer Analogie eine höher entwickelte Fauna hier unten gegeben – aber es gab, soweit mein eigener Blick reichte, nicht einmal das niedrigste Pflanzenleben –, so wären es wohl am ehesten riesenhafte Kriechtiere gewesen, welche sich in peristaltischen Rucken durch den warmen, gummigen Modellierton gewunden hätten. Doch nicht an solche häßlichen Echsen und Pythone dachte ich, sondern an unsern Knirps, und ich war begierig, auf welche graziöse und zierliche Art der kleine Sternentänzer mit dieser Gravitation und dieser Knochenerweichung hier fertig werden würde. Inzwischen schien meine Jovisierung schon so weit fortgeschritten zu sein, daß ich selbst den Eindruck hatte, mein Körper sei so sehr verbreitert und abgeplattet, als wäre er mit einem unsichtbaren kosmischen Nudelwalker bearbeitet

Weitere Kostenlose Bücher