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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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blitzschnell dehnten und zusammenzogen, mitunter so vor, als würden wir jetzt zehnfach so lange Strecken bedecken als zu Anfang der Unterrichtsstunde. Und nun, an dieser Stelle des Geschehens, begann meine Erinnerung lückenhaft zu werden. Die letzten Fetzen, die ich noch leidlich zusammensetzen konnte, bestanden aus dem zornigen, löwenhaft brummenden Paukengeroll und Orgelschüttern, das sich als Jovis-Petri Sphärenmusik schon in unendlicher Ferne ankündigte. Man verlor Leben und Bewußtsein an diese Musik, obwohl auch sie bei aller Furchtbarkeit niemals sehr laut wurde und niemals ein wühlendes Mezzoforte überstieg. Es war ja die Atmosphärenhülle des Planeten, die auf ihrer Fahrt also harfte, tremolierte, paukte und posaunte, wobei jedoch die Leere oder das überdünne materielle Medium des Kleinen Weltraums nur einen bescheidenen Teil der Schwingungen und Tonwellen weiterleiten konnte. – Mein letzter optischer Eindruck aber war, als sei der ganze Raum von Horizont zu Horizont eine allausfüllende, von innen rötlich illuminierte Suppenterrine, die sich vor uns öffnet und in die wir einfahren. Das leuchtende Porzellan, das uns schluckte, war aber wundersam gemustert und gestreift mit langen purpurnen, gelblichen und violetten Bändern. Ich hörte noch und konnte gehorchen, als der Lehrer uns befahl, kopfüber, das heißt mit dem Kopf nach unten in die weltengroße Öffnung der Suppenterrine einzufahren und unser Landungsmanöver auszuführen. Aha, dachte ich, das Material unserer Kopfkugel scheint haltbarer zu sein als das Material unserer Knochen. Mein letzter klarzuckender Gedanke: Man landet auf dem Planeten Petrus deshalb mit dem Kopf nach unten, weil der Apostel in Rom mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden ist …
    Soweit reichte meine Erinnerung. Was zwischen diesem letzten Gedanken geschehen war und meinem ersten tief verblüfften Gefühl, das mir ein Körpergewicht von etwa achthundert Pfund anzeigte, das wußte ich nicht mehr. Ich wußte nur, daß ich lag. Dies aber wußte ich wuchtiger als je etwas zuvor. Das Schlimmste war, ich lag mit dem Gesicht nach unten in dem rostroten patschnassen Eisenschlamm. Der wohlbekannte Geruch der Eisenverbindung durchdrang sogar mein Raumtauchergewand. Die Pläne, die ich faßte, waren, wie man verstehen wird, äußerst begrenzt. Das Nächste, was zu geschehen hatte: ich mußte mich umdrehen, das heißt auf den Rücken wälzen. Dies aber war für mich nicht viel leichter, als das Gegenteil für eine der Riesenschildkröten auf Neu-Guinea wäre, die hilflos sterben müssen, wenn die Eingeborenen sie auf ihren Rückenschild umgekehrt haben. Alles, was ich betastete, war weicher, regennasser Lehm; nein, diese Definition entspricht nicht voll der Wirklichkeit. Es war nicht gewöhnlicher Lehm, sondern eine Art von Modellton, von Plastilin, eine Masse, die viel fester zusammenhielt als Lehm und die sich wie Gummi auseinanderziehen ließ, ohne zu zerreißen, als sei sie künstlich. Die hohe Adhäsionskraft dieser Erdmasse – Verzeihung, man muß natürlich sagen Jupitermasse – schien auch der Grund zu sein, warum ich nicht verschluckt und in die Tiefe gezogen wurde, so wie sie auch der Grund dafür sein mochte, daß der seit Jahrmillionen regnende Regen keine Lachen, Teiche und Seen im Umkreis bildete, sondern nichts anderes tat, als den Modellierton feucht zu halten. Bildhauer gehörten hierher, fiel mir ein. Meinen ersten Plan aber, mich auf den Rücken zu wälzen, machte diese Bodenbeschaffenheit des ungefestigten Petrus zuschanden. Wie spürte ich das volle Riesengewicht der hiesigen Regentropfen, die fünfmal so schwer wie auf Erden auf mir zersprühten wie Maschinengewehrkugeln auf einem Tankpanzer.
    In diesen Augenblicken fühlte ich noch keinerlei Angst und Einsamkeit. Der erste Lehrzweck der Chronosophie, das irdische Raum- und Zeitgefühl im Schüler unsicher zu machen um einer höheren und umfassenderen Wirklichkeit willen, hatte sich an mir voll bewährt. Ich hätte zum Beispiel nicht sagen können, ob ich auf dieser Stelle, wo ich auf dem Mammutplaneten niedergegangen war, bereits mehrere Tage und Nächte lag – Jupitertage und Nächte natürlich, die, wie ich zu meinem größten Erstaunen hörte, Tag plus Nacht, keine zehn Stunden währen – oder nur einige kurze Minuten. Nicht nach meinem gänzlich verwirrten Instinkt, sondern rein verstandesmäßig schloß ich auf letzteres, nämlich auf einige Minuten. Ich glaubte fest an die

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