Stern der Ungeborenen
verschieden, so verschieden, wie nur Land und Meer voneinander sein können. Ich sage und schreibe »Meer«. Es war ein furchtbarer Ozean, der da vor mir wogte. Noch furchtbarer als der Ozean selbst jedoch war die Tatsache, daß er nicht aus Wasser bestand, sondern aus demselben rostroten Moor oder Plastilin wie alles andere ringsum, wenn auch dem Anschein nach in etwas verflüssigterem oder, genauer gesagt, erregterem und aufgewühlterem Zustand. Der furchtbarste Schlag für mich aber: Ich selbst befand mich inmitten dieses Ozeans. Ich hatte mich von Anfang an daselbst befunden, und zwar auf einer zeitweilig erstarrten Welle, auf einer unbewegten Trift, einer toten Flaute inmitten des Malstroms, die binnen der nächsten halben Stunde von den hügelhohen roten Wogen ringsum verschlungen, das heißt an- und ausgeglichen sein mußte. Die unkonsolidierte Oberfläche der Welt war in gezeitenartiger Bewegung. Die unteren Kräfte hoben und senkten sie, wahrscheinlich durch den Einfluß der zehn Monde, der unsichtbaren und der sichtbaren, deren knöcherner Schein durch das in verwirrendem Tempo sich ewig umgestaltende Sturmwolkengetümmel brach. Das Bild des aufgewühlten Ozeans ist schwach und unzulänglich, denn die phantastischste Wasserhose auf dem Pacific läßt sich mit diesem hochwogenden und hochgepeitschten Rotmoor nicht vergleichen, das einen Rumor entfesselte, ein stürzendes Poltern, Krachen, Gurgeln und Schmatzen, vor dem einem, und das ist keine Redensart, die Sinne vergingen. Wenn die roten Wogen zurücktraten, öffneten sich unsichtbare Spalten, aus denen der Lavaqualm zum Himmel stieg. Am Meereshorizonte aber, der durch den sonderbar tapsigen Wellentanz des schweren Schlamms immer wieder verstellt wurde, standen völlig unbeweglich mehrere finsterrote und schwarzviolette Feuersäulen, die den Jupiterhimmel zu tragen schienen mit seinen schädelbleichen Monden und dem unaufhörlichen Wolkensturm. Das lebhafteste Moment in dem schwerflüssigen und niederdrückenden Schauspiel bildete aber das unabsehbare Feuerwerk von weiß oder rot glühenden Eisenbrocken und von schwarzen Schlacken, die von der bewegten Fläche überall hochgeschleudert wurden, um beim Zurückfallen hörbar zermalmt zu werden.
Da hockte ich nun mit einem viel zu großen, plattgepreßten und doch krummen Buckel, von der ungemäßen Schwerkraft gleichsam zertreten. Ich hockte und schaute. Das hätte ich mir niemals ausgesucht, dachte ich, als ich mich schon etwas gefaßt hatte. Ich dachte diese Worte, und vielleicht habe ich sie sogar laut ausgesprochen und hinzugefügt: »Das wäre eher etwas für einen Wagnerianer.« Diese Objektivität inmitten meines kosmischen Schiffbruchs ist nur dadurch zu erklären, daß mein irdisches Bewußtsein es ablehnte, das großartige Drama der wogenden Moorlandschaft vor mir für gemäß, das heißt für wirklich zu halten. In einem Winkel meiner furchterschütterten Seele langweilte mich dieses Drama sogar. Daher die Worte: ich hätte es mir niemals ausgesucht. Da stand mir Johannes Evangelist viel näher. Dort, angesichts der tumultuarisch sich offenbarenden Sonne hatte ich an meiner physischen Zeugenschaft nicht gezweifelt. Hier und jetzt, in diesem prekärsten aller Augenblicke, beschlich mich wieder der alte Argwohn: Hatten die Mentalen nicht hundert und ein Mittel ersonnen, um den Widerspruch zwischen der grenzenlosen inneren Erlebnisfähigkeit des Menschen und seinen tellurischen und physischen Schranken aufzuheben: der Reiseverkehr durch die Zusammenstimmer, die Sternschrift des Uranographen, die dynamische und visionäre Tapete, die jedermann ad libitum aus dem Schatz seiner Erinnerungen an die Wand projizieren kann, und vieles andere mehr? Man konnte ja geradezu den Astromentalismus als die Kunst definieren, die unendlich beweglichen geistigen Bilder unserer Seele zu verstofflichen und in Zeit und Raum zu stellen.
Im Hinblick auf den optischen Kristallberg des Djebels hegte ich darüber hinaus, wie man sich erinnern wird, einen beinahe »technischen« Verdacht. Hatte es nicht bereits zu meiner Zeit elektronische Photographie gegeben? Oder ist das ein Irrtum, eine Einbildung? War es mittlerweile nicht zum Kinderspiel geworden, einen lebendigen Menschen, der auf seinem Lager der Ruhe und Bewegung inmitten gewöhnlicher Zimmerfinsternis in Trance liegt, mit einer unendlich sich hinspulenden Filmaufnahme des Johannes Evangelist oder des Apostel Petrus zu synchronisieren, und zwar dergestalt, daß
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