Stern der Ungeborenen
ist unvergleichlich schneller als die Sprache.
Io-Knirps schlug einige seiner kühnsten Pirouetten über dem dampfenden Bleimeer, wir ahmten sie nach, worauf es uns emporriß, als habe Johannes Evangelist durchaus keine Absicht uns anzuziehen, sondern stoße uns mit Vergnügen ab, um den ungebetenen Menschenbesuch so schnell wie möglich los zu werden. Im Grauen Neutrum wieder zu Himmelskörpern, das heißt zu unendlich verdünnten Strichen mit Stecknadellichtköpfchen geworden, erlebten wir nun das Kometenturnen, diese herrlichste aller chronosophischen Übungen, als eine wohltätige Erholung von dem eben stattgehabten Abenteuer auf dem Mare Plumbinum. Da war es B. H., der den verhängnisvollen Wunsch aussprach, nach unserer Spritztour auf den leichtesten und kleinsten den entsprechenden Ausflug auf den größten und schwersten aller Wandelsterne zu unternehmen. Das würde für ihn selbst eine höchst spannende Abwechslung bedeuten, habe er doch bisher, durch Zufall und anderweitige Beschäftigung abgehalten, recht wenige chronosophische Erfahrungen sammeln dürfen; für mich aber, den Gast aus den Anfängen der Menschheit, wäre dieser vergleichende Besuch eine dringende, ja zwingende Notwendigkeit, da nichts mir den Fortschritt der mentalen Menschheit strahlender vor Augen führen könne, als ihre Beherrschung des Sternenhimmels durch die Chronosophie. Obwohl selbst nur ein Strählchen ausgewalkter Staubmaterie, räusperte ich mich heftig, um B. H. zu verstehen zu geben, er möge nicht mich in den Vordergrund drängen. Der Lehrer aber erwiderte, daß er »Seigneur« voll und ganz zu Diensten stehe, es liege auch nicht die geringste Schwierigkeit vor, den Fuß auf Apostel Petrus, den mittelsten und riesigsten Planeten, zu setzen, im Gegenteil. Wenn Petri Umlaufbahn sich auch ziemlich entfernt vom Platze befinde, so sei das Objekt andererseits näher als gewöhnlich zu dieser Stunde und liege außerdem in der verlängerten Achse unserer selbst. Er, der Lehrer, möchte nur folgendes zu bedenken anheimgeben. Seine Klasse bestehe aus kosmisch recht abgehärteten Burschen, wie überhaupt das Jugendalter vor der Geschlechtsreife sich am besten für die chronosophische Propädeutik eigne. Zwölfjährige genössen den unabsehbaren Vorteil seelischer Stumpfheit, das Nervernsystem der Erwachsenen dagegen reagiere viel heftiger gegen alles Außerirdische und sei darum auch weit gefährdeter. Je früher man mit der Sternwanderschaft beginne um so besser. Apostel Petrus, der Jovialstern oder Mardukh der Urzeit, biete kein ganz so spaßhaftes Unternehmen wie zum Beispiel Johannes Evangelist, Maria Magdalena oder der Täufer, früher Mars. Er, der Lehrer, hüte sich, den Täufer zum Besuch vorzuschlagen, da diesen seit Menschengedenken Dilettantenvereine und würdige Spießbürger für ihre Familienausflüge wählen.
»Aber«, so sagte der Herr Lehrer wörtlich, »Petrus ist ein manisch depressives Wesen. Er ist eine Persönlichkeit von höchstem göttlichen Wert, aber dennoch nicht voll ausgereift und gefestigt. Das Große in der ganzen gestirnten Natur reift nur langsam und schleppend. Es bleibt am längsten den stürmischen Übergängen unterworfen, von denen die Jugendreife der schmerzlichste ist. Gott allein weiß, welche Zukunft dem Apostel Petrus noch erblühen kann. Gegenwärtig ist er voll Emotion, Heftigkeit und Unruhe und wartet den Betrachtern mit den Überraschungen seiner ungezügelten Schwermut auf. Man kann ihn leider nicht zuverlässig nennen, was ja seine Taufpaten auch nicht gewesen sind, weder Jupiter der Frauenverführer, noch der Apostelfürst, der Christum verriet, ehe der urzeitliche Hahn dreimal krähte. Ich weiß nicht, ob ich ab- oder zuraten soll …«
»Natürlich sollen Sie zuraten, Herr Lehrer«, unterbrach ich seine Bedenken. »Ich habe es nicht gern, der Gegenstand von Sorge und Zurückhaltung zu sein. Kein Lebendiger ist durch ein ähnliches Schicksal gegangen wie ich. Was hätte ich vom Apostel Petrus zu fürchten?«
Auf diese Worte hin zuckte der Lehrer die Achseln und begab sich mit einem gemurmelten »wie Sie wünschen, Seigneur« höchstselbst an unsere Spitze, was doch etwas ganz anderes war, als wenn der geniale Knirps sich vor uns vorwärts streckte. Die Extravaganzen, die der Lehrer anschlug, waren sofort von kühnstem Ausmaß, und obwohl Zeit, Raum, Ausdehnung, Lage, Richtung für mich »hier oben« vollkommen erfahrungsleere Begriffe waren, so kam es mir, während wir uns
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