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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ehemaligen Zeitgenossen ihn ohne jeden Zweifel für einen Narren gehalten hätten. In Wirklichkeit war er aber ein Weiser hohen Ranges und im wahrsten Wortsinne ein »Verwunderer«, denn während er kopfschüttelnd auf und ab schritt, barst sein Herz beinahe vor gottwonnigem Staunen über Dasein und Schöpfung. Er war erst vor wenigen Stunden »heimgekehrt«.
    In einem andern Studio sahen wir einen großen, kräftigen Mann stehen, der auf seiner flachen Hand ein Kieselsteinchen hielt, eine kleine Muschel und irgendeine Blume. Ich denke mir, es war ein bescheidenes Wiesenblümchen aus dem Park des Arbeiters. Niemals hatte ich geahnt, daß die Form des menschlichen Gesichts imstande sei, einen solchen Ausdruck von geistiger Versunkenheit zu tragen. Dieses Antlitz war beinahe konkav von Trance. Es war weiß wie der Tod unter der Wucht des ungeheuren Gedankens, der sich in ihm entfaltete. Plötzlich begannen dem Mann die Tränen in Strömen die Wangen herabzurinnen. Er merkte es nicht einmal, als sie auf seine Hand und auf das Blümchen fielen.
    Einen dritten Verwunderer sahen wir, der mit nervigen Händen seine Hüften gürtete, um aus dem Djebel in die Welt hinauszuziehen. Es war sein gutes Recht. Er gehörte nämlich zu denjenigen, in welchen der Amor Dei, den sie heimbrachten, sich in jenen strahlenden Tätigkeitsdrang verwandelte, der auf Welt- und Menschenliebe beruht. Solche wie er erschienen plötzlich in den Häusern unter der Erdoberfläche und brachten den schauervollen Anhauch der Intermundien aller Grade mit, sprachen zu den Leuten, lockerten die Dichtigkeit ihres Erdensinns, lehrten sie zu unterscheiden zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen und unterwiesen sie in der Kunst, sich als Teil des Ganzen zu denken und zu fühlen. (Manchmal aber erschien solch einer in den Häusern und redete gar nichts, sondern zeigte schweigend irgendeinen neuen Handgriff, lehrte einen neuen Brauch, der die echte Lebendigkeit des Lebens förderte.)
    Wenn auch nicht alle Verwunderer vor gottwonnigem Staunen, das sie über und über erfüllte, den Kopf schüttelten wie jener, den wir in unserem Studio mehrere Minuten lang beobachten durften, so trugen doch alle einen ähnlichen Ausdruck auf ihren Zügen wie er, eben jenen Ausdruck fassungslosen Verwundertseins, dem zu Dank sie alle mit dem altgriechischen Äquivalent als Thaumazonten bezeichnet wurden. Am deutlichsten enthüllte sich dieses seelische Überwältigtsein der Verwunderer in ihrem Gemeinschafts-, Versammlungs-, Anbetungsraum, oder wie immer wir die riesige, hell erstrahlende Halle nennen wollen, in der wir mehrere Tausende von ihnen beisammen fanden. Es waren ihrer so viele, und sie waren so tief in sich versunken, daß niemand uns Eindringlinge zu bemerken schien, als der Fremdenführer uns eintreten hieß. Er gab mit lauter Stimme Auskunft, daß in dieser Halle seit undenklichen Jahrhunderten niemals ein anderes Licht herrsche als dieses strahlende eines hohen Universalmittags, in das wir getaucht waren, und das gleich dem Lichte auch niemals das Opfer unterbrochen werde, welches die Lamaserie der Verwunderer hier darbringe bei Tag und bei Nacht. Es war freilich kein heidnisches Priesteropfer und auch kein christliches Meßopfer, sondern ein unaufhörliches Offertorium hymnischer Poesie, die niemals aufgezeichnet und niemals wiederholt wurde. Wie sie in den aufgewühlten Seelen der Heimkehrenden entstand, so strömte sie dahin in merkwürdig rauhem Chorklang. (Außer beim Arbeiter bin ich nirgends in der mentalen Welt solchen rauhen Stimmen begegnet wie hier.) In schwarzen, mit goldenem Flitter bestickten Festschleiern bildeten die Thaumazonten Züge und Abteilungen, die nach einem uns verborgenen Marschmuster in Kreisen und Schlangenlinien durcheinander wandelten. Jede dieser Sternkompanien trug ein Banner aus Schleierstoff in verschiedenen Farben. Während diese reifen, kraftvollen Männergestalten dahinschritten, brachen aus ihren ekstatisch verengten Kehlen ruppige Worte und Ausrufe. Jedweder brachte sein eigenes Wort, sein eigenes Gedicht dar, und doch, ich weiß nicht wodurch, der Chor war im Zusammenklang vollkommen und einheitlich.
    Der rauhe Hymnus des Weltenheimkehrers, der seit Jahrhunderten nicht abriß, sondern alle drei Stunden durch frische Verwunderer neu genährt wurde, dieses wilde Gedicht eines zur kosmischen Vollbewußtheit erweckten und erzogenen Menschentums, klang uns noch lang in den Ohren nach, als wir eine endlose schiefe Ebene

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