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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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hinabsausten, die in den unteren Part des Djebels führte. Zwischen der Lamaserie der Verwunderer und derjenigen der Fremdfühler lag viel mehr Raum als oben zwischen den Mansarden der Sternwanderer und den Stockwerken der Verwunderer. Es lag in jeglichem Sinne viel mehr Raum oder besser »Abstand« zwischen ihnen. Die Fremdfühler nämlich gaben sich zumeist dem Zustande des Heimgekehrtseins, dem Garbenbinden der Ernte hin. Auffahrten zu den Grenzen des Universums gehörten auch noch zu den Regeln der Xenospastik, sie wurden aber nur selten geübt und dann mit Furcht und Zittern. Das hing nicht so sehr mit dem Alter der Fremdfühler zusammen, das die letzten sechzig tätigen Jahre des astromentalen Menschen umfaßte; es hatte das geschärfte Bewußtsein, die gesteigerte Sensibilität und eine sonderbare Anfälligkeit zur Ursache, die zu den traurigeren Folgen der Chronosophie gehörte. Wenn der Mensch seine Grenzen überschreitet – und er ist das einzige Geschöpf, das sie überschreiten kann –, dann findet er immer eine Schranke, die ihm Halt zuruft. Als in den Anfängen der Menschheit die ersten Versuche mit X-Strahlen gemacht wurden, verloren die Experimentatoren ihre Finger dabei. Später lernte man, sich vor den zerstörenden Wirkungen dieser Strahlen zu schützen. Die dem Menschen gesetzte Grenzschranke durfte in diesem Falle herausgerückt werden. Ob jedoch Zingarelli, Beethoven, Smetana und so manch anderer Musiker äußerlich ertaubten, weil sie die erlaubte Grenze inneren Hörens überschritten, ist eine geheimnisvolle Frage, die ich nicht zu beantworten wage. Eines steht fest, die Fremdfühler, diese Veterane der interstellaren und internebularen Welten, wurden, besonders in vorgerückten Jahren, von einer Krankheit heimgesucht, die viele von ihnen teilweise, oft gänzlich lähmte und verkrüppelte. Den Namen dieser Krankheit hab ich vergessen. Es scheint eine Art von kosmischer Arthritis gewesen zu sein. Die von ihr Befallenen pflegten nicht mehr aufzufahren.
    Doch auch die Jüngeren und Gesunden in der Lamaserie der Fremdfühler trugen auf ihren Gesichtern nicht mehr den Ausdruck gottwonnigen Staunens wie ihre Kollegen aus den oberen Stockwerken des Djebels, die kräftig männlichen Verwunderer. Sie trugen auf ihren Gesichtern einen ganz verschiedenen Ausdruck, der noch viel schwerer zu beschreiben ist als das gottwonnige Staunen; es war eben jener Ausdruck, demgemäß sie als Menschen bezeichnet wurden, die sich ständig und unabwendbar und gleichsam berufsmäßig fremd fühlen. Dieses Fremdfühlen, obwohl es niemals von ihnen wich, steigerte sich dann und wann, oft täglich zu starken Anfällen, zu sogenannten Xenospasmen. Niemand von uns mag jemals von einem »Xenospasmus« gehört haben. Das Wort ist unbekannt, die Sache hingegen ein weit verbreiteter menschlicher Zustand. Das gewöhnliche Heimweh zum Beispiel in seiner doppelten Form, als Sehnsucht nach einem entfernten Ort und als Verlangen nach einer vergangenen Zeit, ist ein typischer Xenospasmus. Diese wohlbekannte Empfindung aber ist viel verwickelter und viel steigerungsfähiger, als man gemeiniglich denkt. Das Heimweh eines pensionierten, alten Seebären nach seinem noch immer seetüchtigen Schiff ist etwas recht Simples. Das Heimweh eines Flüchtlings nach seinem Vaterland ist schon viel komplizierter, weil dieser Flüchtling genau weiß, daß mit jeder vergehenden Stunde das Verlorene sich wandelt und daher unwiederbringlicher wird. Die Unmöglichkeit seiner wirklichen Stillung ist geradezu die Würze jedes besseren Heimwehs, so wie die Aussichtslosigkeit, Vergangenes und Verlorenes wiederherzustellen, die brennende Wunde des Exils ist.
    Die Anfälle der Xenospasten waren der Gefühlswelt des »Exils« nicht ganz unverwandt, weshalb ich in den obigen Sätzen auf sie hingewiesen habe. Man verstehe mich recht, die Chronosophen der höchsten Grade verspürten nicht etwa ein Heimweh nach den kosmischen Räumen, die sie nicht mehr besuchen konnten. Ihr Heimweh war gegenstandslos und ziellos. Sie fühlten das ganze materielle All, das sie im kleinen Finger hatten, als Exil. Der Xenospasmus war nichts anderes als der ekstatisch hymnische Zustand der Verwunderer auf einer weniger tätigen, dafür aber höheren geistigen Stufe. Er ging über die männlich bejahende Ekstase weit hinaus, die sich noch selbst betrog, weil sie keine Beschränkung fühlte. Die Xenospasten aber, die bis an die Grenzen der Schöpfung gelangt waren, fühlten oft

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