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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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jedes bestandene Rigorosum machte ihn neuerlich zum Schüler, wenn auch auf höherer Stufe. So blieb eine demütige Gleichheit aller vor der unendlichen Aufgabe gewahrt. Selbst vom obersten Chronosophen, jener Persönlichkeit, die der Hochschwebende hieß (welcher Titel mich immer magischer anzog), behauptete unser Cicerone, daß er sich von Zeit zu Zeit einem Rigorosum unterwerfen müsse, bei welchem der kleinste Junge aus der Planetenklasse der Prüfer sei. So schloß der, welcher es am weitesten gebracht hatte, der Vollender, den chronosophischen Zirkel, indem er sich vor dem Beginner beugte.
    In der Lamaserie der Verwunderer herrschte ein viel irdischeres Licht und Dunkel als in den astrogymnastischen Räumlichkeiten der Sternwanderer, wohin die tausendfältigen Prismen und Auffangsvorrichtungen der Djebelschroffen das Licht der einzelnen Gestirne herableiteten und auseinanderstrählten. Es kam daher, daß die Thaumazonten bereits mehr ein betrachtender als ein tätiger Stand waren. Die Älteren unter ihnen hatten in mehr als einhundertjähriger Arbeit ihren Körper und ihren Geist durchtrainiert und den Sternräumen angepaßt. Es geschah noch immer in regelmäßigen, aber immer größeren Abständen, daß sie »auffuhren«. Den Gegenstand ihrer intermundialen Besuche bildeten aber nicht nur die entfernteren Gegenden unserer Milchstraße, sondern die Thaumazonten waren die ersten, denen die Ehre zuteil wurde, jene unnennbaren Ozeane der Leere zu durchkreuzen, welche die Spiralnebel voneinander trennen, diese einzelnen Universa, aus denen das Universum besteht. Mir fehlte jede Vorstellung für das, was die Verwunderer dort oben erlebten. Es ließ sich nicht in gymnastischen Figuren ausdrücken, wie die Ballettänze der Sternwanderer sie darstellten. Es war ihre eigene Sache, und es hieß, daß sie selten darüber schrieben und noch seltener darüber sprachen. Eines nur war langsam durchgesickert und hatte die Laienwelt als Gerücht erreicht: Wenn die Grundgesetze und Grundbildungen jener Sternnebel auch dieselben sind wie die unseres eigenen Sternnebels der Milchstraße, so ist doch der »Ausdruck«, das »Genre«, der »Stil« oder wenn man will die »Seele« jedes dieser Universa vom anderen grundverschieden. Nun, mich wundert’s nicht. Und vielleicht wundert’s ebensowenig den Leser, den ich jetzt schon meinen treuen Leser nennen darf, hat er doch erlebt, welche grundverschiedenen Charaktere sich in Apostel Petrus, Maria Magdalena und Johannes Evangelist offenbaren, und vergegenwärtigt er sich dazu die überherrliche Phönix- und Christusnatur unserer Sonne, wie sie ihm auf Johannes Evangelist entgegentrat.
    Rüsteten sich die jugendlichen Astropathetiker unablässig zur Wanderschaft, und bedeutete für sie Rückkehr nichts anderes als Vorbereitung zu neuerlicher Auffahrt, so teilten die Thaumazonten ihr Leben bereits zwischen Wanderschaft und Rückkehr, wobei sich der Akzent von Jahr zu Jahr immer mehr auf das Wort »Rückkehr« zu verschieben begann. Diese Tatsache offenbarte sich klar in den völlig verschiedenen Lebens- und Arbeitsformen der mittleren Lamaserie.
    Als wir die Korridore durchflogen, erblickten wir hier keine großen chronogymnastischen Übungssäle mehr, sondern eine schier unabsehbare Anzahl kleinerer Studios und Denkräume, in welchen die Verwunderer einzeln, paarweise oder in Gruppen von drei, vier bis sechs Männern der Betrachtung, der Forschung, der Unterredung hingegeben waren. Oh, wie treffend erschien mir jetzt die Bezeichnung »Verwunderer« für die Gesichter dieser Männer. Der jahrzehntelange Umgang mit den unerschöpflichen Individualitäten der Gestirne und Gestirnwelten, die tägliche Betrachtung der Schöpfungssubstanz in ihren Grundgebilden, die Addition unendlicher Zeit- und Raummengen zum eigenen Leben – manch einer der Verwunderer war in diesem Hinblick eine beträchtliche Zahl von Jahrmillionen alt –, all das prägte seine gewaltige Spur dem menschlichen Habitus auf. Diese Männer konnten nicht wie die Gelehrten einer früheren, rein intellektuellen Welt mit ihrem Schreibgerät, ihrem Mikroskop und ihren Eprouvetten auch ihren Geist fortschieben und als unbedeutende Spießbürger im Wirtshaus oder Club erscheinen, nein, jede einzelne Zelle ihres Leibes war imprägniert von den ungeheueren Erfahrungen. Da sahen wir einen zum Beispiel in seinem Studio auf und ab gehen. Es war ein sehr schöner Mann. Er schüttelte langsam, aber unablässig den Kopf, so daß meine

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