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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ich noch mehrere Stunden Schlafenszeit hatte. Erst um fünf Uhr dreißig Minuten mußte ich durch den bodenlosen Straßendreck die fünfzig Schritte zu unserer Telefonbaracke hinüberstapfen, um meinen Kollegen abzulösen, der den Nachrichtendienst mit mir teilte. Nichts schöner während eines harten, mühsamen Lebens, als zu erwachen mit dem Gefühl, der Morgen sei da, aber es ist noch mitten in der Nacht, und eine Ewigkeit von Schlaf liegt vor einem. Schlaf, und zumal der tiefe Jugendschlaf, ist die süße Selbstumarmung des Menschen. Ich fürchtete das Trommelfeuer nicht, das wegen des guten Wetters in jeder Minute losbrechen konnte. Ich fürchtete den Infanterieangriff der verstärkten russischen Armeen nicht, der uns schon am nächsten Nachmittag in aufgelöstem Rückzug durch die endlosen Rübenfelder dieser Landschaft jagen sollte. Ich fürchtete nicht einmal die Gefangenschaft, obwohl ich mechanisch nach dem Lederbeutel tastete, der mir um den Hals hing. In diesen Beutel hatte mir meine Mutter für den Fall der Gefangenschaft einige wenige Goldstücke eingenäht. Ich erinnerte mich mit größter Deutlichkeit, daß ich, sorglos und vergnügt, den Kopf auf meinen Armen, wieder einschlief. Und ich erinnerte mich ebenso deutlich, daß sich viel verändert hatte, als ich nach einer Stunde etwa neuerdings erwachte, oder richtiger, geweckt wurde. Das Ziffernblatt meiner Uhr phosphoreszierte nicht mehr, denn der Mond schien noch viel lichter in die Kammer als zuvor. Das war aber nicht alles. Nicht nur Mond und tickende Zeit teilten mit mir Panji Pozñanskás Loch. Ein andrer war noch durch das offene Fenster eingestiegen, hatte den zweiten zerbrochenen Holzstuhl an mein Bett gerückt, saß da und schaute mich an. Es war ein Soldat. Was anderes konnte er auch sein? Außer der Pozñanská und ein paar uralten Juden gab es keine Zivilisten in diesem Frontstädtchen. Es war ein dreckstarrender Infanterist, der geradewegs aus den Schützengräben kam, die sich entlang der Ortslisière hinzogen. Der Mann hatte den typischen Grabenbart, wie er selbst den jüngsten Leuten wuchert, stachlig, buschig, wirr durcheinander, zum Teil blond, zum Teil dunkelbraun, und beides auf demselben Quadratzoll. Diese Männerbärte, die eher hemmungslos üppige Gesichtsvegetation sind, gemahnten mich immer an zusammengerollte rostende Drahthindernisse. Der an meinem Bette sitzende Infanterist war in voller Ausrüstung. Sein Rucksack hing ihm, dick gepackt, über den Schultern. An zwei schmutzigen Bändern, die sich über der Brust kreuzten, trug er links die Feldflasche und rechts den Brotbeutel. Das Gewehr hielt er zwischen den Knien. Sein kurzes, scharfgeschliffenes Bajonett hatte er aus der Scheide gezogen und schnitt damit, zu meinem Erstaunen, schlecht und recht einen tüchtigen Rand von einem säuerlich duftenden Kommißbrot ab, das er danach gemächlich wieder in den Brotbeutel zurücktat. In der linken Hand hielt er nun die dicke Brotscheibe und in der rechten das Bajonett, mit welchem er voll Gelassenheit in die Scheibe regelmäßige Einschnitte machte. Ich sah unendlich fasziniert zu, wie geschickt er das trockene, stark mit Mais versetzte Kriegsbrot zu behandeln verstand, so daß kein Brocken und Brosamen zur Erde fiel. Und nun steckte er den ersten Würfel in den Mund und begann nachdenklich langsam zu kauen. Dabei schaute er mich aus zwei sehr tiefliegenden Augen an, unaufhörlich, unabwendbar. Er schaute mich eigentlich aus gar keinen Augen an, sondern aus zwei aufmerksamen Schatten oder dunkeln Flecken. Dieser Blick war schaurig traurig. Ich fühlte den Haß dieses Mannes, der jede seiner Bewegungen höhnisch langsam machte. Mehr als Haß. Der ganze Mann war verkörperter Vorwurf. Und dieser namenlose Vorwurf, der Vorwurf der ganzen Menschheit richtete sich gegen mich persönlich, als sei ich schuld an allem, an Dreck, an Krieg, Trommelfeuer und Tod. Ich erinnerte mich mit zweifelloser Schärfe, daß ich, der soeben im Mond Erwachte, den großen Vorwurf des Eindringlings mit ganzer Seele annahm, ich, der ich nichts andres war als er, ein nichtiger untergeordneter Soldat. Ich wunderte mich keineswegs darüber, warum er nicht beim Divisionsgeneral eingestiegen war oder zumindest bei irgendeinem Major oder Oberstleutnant, sondern gerade bei mir. Ohne den düstern augenlosen Blick abzuwenden, steckte er nun mit derselben Hand, die das Bajonett hielt, den nächsten Brotwürfel in den Mund. Der Mann roch nach Schlamm und Lehm und

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