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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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wochenlanger Ungewaschenheit und auch nach Jodoform, als sei er verwundet und trage unter der Uniform einen Verband. Sein Mantel war nicht mehr feldgrau, oder richtiger, feldblau, wie es das österreich-ungarische Kriegsreglement vorschrieb, sondern gelbbraun wie ein Sturzacker oder ein offenes Grab.
    Ich versuchte loszukommen von der Lähmung, die mich umwand, ein Wort hervorzustoßen, meine Hand zu bewegen. Nichts davon gelang. Da war ich fast sicher, der Infanterist neben mir sei ein geträumter Infanterist. Ich schloß trotz des Bewußtseins der Gefahr für mehrere Sekunden die Augen, um dem Traum die Möglichkeit zu geben, sich aufzulösen. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte der Infanterist nicht nur das Gewehr gegen mein Bett gelehnt, sondern sich in seiner ganzen dürren Länge erhoben, als sei die Zeit da, zur Tat zu schreiten. Er kaute kein Brot mehr. Er schaute nur noch. Doch er schaute nicht mehr schaurig traurig als verkörperter Vorwurf, der er war, sondern sachlich und bemessend aus kleinen, blassen, wirklichen Augen. Seine rechte Hand hielt er hinterm Rücken verborgen. Seine Linke lag auf meiner Brust. Sie tastete den Lederbeutel mit den Goldstücken ab. Sie riß an der Schnur …
    Da verstand ich endlich. Ich lag unterm Messer des Mörders. Da gelang es mir. Ich schrie auf:
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie da?«
    Es ist eine große Sache, unterm Messer des Mörders zu liegen. Wer sie nicht erfahren und überlebt hat, kann diese Sache gar nicht ermessen. Ich lag hilflos in meinen Schlafsack gewickelt, der einen Kampf unmöglich machte. Während ich aufschrie, wußte ich genau, daß ich durch diesen Schrei einen Zwang auf den Mörder ausübte, mir das Bajonett, das er hinterm Rücken verborgen hielt, in die Brust zu stoßen. Ich erwartete den Stoß auch mit tödlicher Sicherheit.
    Der Infanterist aber wandte den Kopf zum Fenster. Er hörte etwas, was ich noch nicht hörte:
    »Militärpatrouille, Zimmerinspektion«, sagte er kurz mit einem fremdartigen Akzent.
    »Militärpatrouille« nannte man bei uns dasselbe, was anderswo Militärpolizei heißt. Ich erinnerte mich, daß diese Worte mich zuerst beruhigten. Mein Fenster stand offen, und die Militärpolizei auf ihrer Nachtrunde hatte nachgeforscht, wer hier schlief. Ganz in Ordnung. Doch in der nächsten Sekunde schon wußte ich, daß der Mann in seiner schmutzigen stinkenden Montur, in Grabenausrüstung, ohne Armbinde und ohne Korporalsrang nie und nimmer der Führer einer Militärpatrouille sein konnte. Ich wickelte mich aus dem Schlafsack, was nicht gleich gelang. Dann sprang ich auf die Füße. Zum Fenster. Er kann nur einige Schritte weit entfernt sein. Draußen liefen viele Soldaten in allen Richtungen, ihre Mäntel zuknöpfend, ihre Gewehre schulternd, ihre Überschwünge festschnallend. »Militärpatrouille«, rief ich, doch niemand bemerkte es, denn das Trommelfeuer der Russen war bereits im Gange. Nach wenigen Minuten wurde es zu einem einzigen ungegliederten Gebrüll. Schon begannen die ersten Granaten einzufallen. Die schwarzen Bäume der Explosionen wuchsen aus der Erde. In einem Hause am anderen Ende der Straße saß ein Treffer.
    Ruhig zog ich mich an. General Brussilow, dessen Granaten durch die Lüfte wimmerten, hatte mich vom Tode durch Mörderhand errettet. Es war eigentlich ganz unlogisch, daß der Mörder durch den Artillerieangriff sich hatte abschrecken lassen, sein Werk zu vollenden. Im Tumult der Schlacht wäre es für ihn viel ungefährlicher gewesen, zu meinen Goldstücken zu kommen als vorher. Dies war zweifellos nicht nur ein unheimlicher, sondern ein höchst wichtiger Augenblick meines Lebens, bei dem es um Tod und Leben ging. Ich hatte diese Geschichte in mir gleichsam mit Zeitlupe wiedererweckt und ausgesponnen, um sie dem Hochschwebenden in ihrer ganzen Wirklichkeit zu offerieren. Die Erinnerung hatte mich sosehr in Anspruch genommen, daß ich vielleicht eine Minute lang vergessen hatte, wo ich war.
    Nun suchte ich den Hochschwebenden mit neugierigem Blick, denn er hatte sich inzwischen fortbewegt. Er schwebte nicht mehr über meinen Füßen, sondern plötzlich über meinem Kopf, und zwar mit seinem eigenen Kopf nach unten, so daß sein Buddhagesicht parallel zu dem meinen in der Luft stand. Zugleich aber geschah etwas, wofür ich zum Vergleich das Gemälde eines barocken Spaniers heranziehen muß, das, wenn ich nicht irre, im Amsterdamer Rijksmuseum hängt. Auf diesem Bilde ist ein Heiliger in Levitation

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