Stern der Ungeborenen
meinesgleichen den sonderbaren Anspruch ableiten, über der »bürgerlichen Weltordnung« zu stehen. Ich zweifle selbst in dieser Sekunde nicht daran, daß man mich mit andern Maßen messen muß. Zugleich aber durchdringt mich immer eisiger, immer schneidender die Erkenntnis, daß wir beide uns nicht nur gegen die bürgerlichen, sondern gegen eine höhere Weltordnung vergangen haben. Mann – Weib – Kind, diese heilige Begegnung darf nicht so sein wie hier und jetzt. Ich hätte nicht eintreten dürfen in dieses weiße Zimmer mit einem lächelnden Gruß, mit einem beherrschten Gesicht wie irgendein Freund und Bekannter. Das letzte Mal, daß wir uns sahen, war in dem einsamen Hause, in der schrecklichen Nacht, da sie auf Tod und Leben erkrankte. Seither sind drei Wochen vergangen, immer wieder auf Tod und Leben, Operationen und endlich die schwere Geburt. Und heute erst nach drei schrecklichen Wochen bekam ich Erlaubnis, als ein guter Freund, wie andre gute Freunde, sie wiederzusehen. Ich blicke sie so wenig wie möglich an, denn meine Selbstbeherrschung ist aufgebraucht. Jetzt müßte einer von uns endlich sprechen. Da spricht sie schon. Aber nicht zu mir. Sie schickt die Krankenschwester mit einem Auftrag aus dem Zimmer. Ich warte, scharf horchend, bis die Schwester die innere und die äußere Tür geschlossen hat, dann sinke ich neben dem Bett auf die Knie. Diese Kombination zwischen berechnendem Abwarten und plötzlichem Niederknien erscheint mir theatralisch und macht mich unglücklich wie alles andre, was ich in diesen schwerflüssigen Minuten tue. Die Frau fährt mir übers Haar. Sie sagt: »Das Kind … Dein Kind …«
Ich stehe auf. Auf Zehenspitzen gehe ich zu dem kleinen Korb am Fußende des Bettes. Ob die Schwester draußen horcht? Warum denke ich an die Schwester? Ich fürchte mich, das Kind zu sehen. Der Arzt, den ich unten ausfragte, hat mit den Achseln gezuckt: »Es ist kaum anzunehmen, daß es leben wird.« Das erste: Verwunderung, daß dieses zu früh geborene Kind ein voller Mensch ist, eine unsagbar ausgebildete Persönlichkeit, die von dem kleinen Körper zwar fugenlos begrenzt wird, aber nicht identischer ist mit ihm als ein Bild mit der Leinwand, auf der es gemalt ist. Ich sehe diese wohlgegliederten Händchen und Fingerchen. Ich sehe das feine, beinahe weiße Gesicht, die hohe Stirn, den überaus runden Schädel mit den rasch pulsenden Fontanellen. Es wird mir lächerlich klar, daß in diesem kugelrunden Köpfchen eine eigene, unabhängige, charaktervolle Dauer lebt, die älter ist als zwölf Tage, die so alt ist wie die Welt. Ich bin der Vater, und dies ist mein kleiner Sohn. Ich bin die Ursache, und hier ist die Folge, und die Kette von Ursache und Folge geht zurück bis zum Anfang aller Dinge. Ich sollte jetzt eine feierliche Zusammengehörigkeit empfinden, das Wunder der allernächsten Verwandtschaft auf Erden, den würgenden Schmerz des nahen Verlusts. Nichts empfinde ich, obwohl ich den schwachen Versuch mache, mir einiges davon einzureden. Doch obwohl sonst ein erprobtes Opfer von Autosuggestionen, jetzt bin ich nicht imstande, jene Regungen in mir zu erzeugen, welche die schwierige Situation fordert. Fremdheit fühle ich und Verlegenheit. Und zwar eine doppelte Verlegenheit.
Eine vor Gott und eine Verlegenheit vor dieser unabhängigen Individualität im Säuglingskörper. Das Kind ist still. Würde es schreien, wäre alles gut. Doch es fiebert hoch, und die großen blauen Augen wandern. Ich weiß, daß ich der Mutter Hoffnung geben muß. Ich will auch mir Hoffnung geben. »Wir werden schon durchkommen«, sage ich oder etwas ähnliches.
Noch einmal, ein letztes Mal, neige ich mich über das runde Köpfchen. Plötzlich ist mir das Kind näher. Ich kenne diesen kleinen fiebernden Knaben. Die Krankenschwester ist wieder ins Zimmer getreten. Ich lege mein lügnerisch harmloses Gesicht an. Die Frau sagt mit leiser Stimme:
»Als Sie vorhin ins Zimmer traten, war draußen eine Trauermusik …«
Diese Worte geben mir die Möglichkeit, ans offne Fenster zu treten und hinauszusehen. Eine öde Straße in dem Bezirk der Hospitäler, an deren Ende die Bäume eines kleinen Parks im Spätsommer verdorren:
»Ich sehe nichts«, sage ich.
»Schließen Sie bitte das Fenster«, sagt die Frau.
Ich schließe das Fenster. Ein kurzes stummes Aufschluchzen widerfährt mir. Ich drücke meinen Kopf gegen die Scheibe. Wie ich mit der Stirne das kalte Glas berühre, befinde ich mich –
Befand ich
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