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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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mich, es ist nicht nötig, zu sagen wo.
    Den Hochschwebenden hatte es höher gezogen. Er paddelte mit den Ärmchen und trat die Luft lebhaft, konnte sich aber doch nicht mehr so tief unten halten wie früher. Was dieses Wort »früher« bedeutete, das heißt, wieviel Zeit vergangen war, das konnte ich nicht wissen, denn all die »Augenblicke«, die ich mir selbst vergegenwärtigt, und der letzte, den ich durch die Kraft des Hochschwebenden wiedererlebt hatte, liefen nicht auf den Schienen der allgemeinen astronomischen Uhrzeit, sondern waren aus eigener, aus heterochthoner Zeit gesponnen. Der Augenblick mochte ebensogut Stunden wie Sekunden gedauert haben.
    »Es war genau so, ganz genau so«, murmelte ich, »jeder Gedanke und jedes Gefühl, ich meine jede Gefühlslosigkeit … Und nichts ist vergangen …«
    »Vergangen?« fragte die zischene Stimme der Intermundien. »Was ist das?«
    Der Triumph des Hochschwebenden über mich und meine Fallenstellerei war so restlos, daß ich es trotz der gesteigerten Schwerkraft im Comptoir nicht länger ertrug zu liegen. Ich tat meine sehr schweren Beine vom Ruhelager und blieb tiefgeduckt und mühsam atmend sitzen. Der Großchronosoph der gegenwärtigen Welt hatte aus meinem Innern das vergilbte Lichtgarn eines verschollenen Augenblicks hervorgespult, den ich längst überwunden hatte, obwohl ich ihn werde vertreten müssen, wenn alles Licht wird eingesammelt werden. Ich mußte an das siebzehnte grundlegende Paradox von Ursler denken, wie es uns der Fremdenführer auf dem Wege durch die Lamaserie der Sternwanderer zitiert hatte: »Zeit und Raum entsteht durch Licht. Licht entsteht nicht durch Zeit und Raum.« Das Licht, dieser schiffbare Strom aller Erscheinungen, trug auch diesen Augenblick weiter zur Mündung.
    »Es ist ein schrecklicher Augenblick«, sagte ich. »Aber warum der wichtigste?«
    Noch einmal erhielt ich Antwort: »Weil der verbindungsreichste Augenblick der wichtigste ist.«
    Ich verstand das. Plötzlich verstand ich aber noch viel mehr. Wie ein hochgespannter Strom durchzuckte es mich. Kugelrund war der nackte Buddhakopf des Hochschwebenden. Kugelrund war das nackte Köpfchen des Kindes im Korb. Und noch ein anderer Kopf war kugelrund. Der Kopf des kleinen Sternentänzers, der Kopf des künftigen Hochschwebenden. Und mehr als der Kopf. Das Gesicht des Sternentänzers glich ebenbildlich dem Gesicht des Kindes im Korb. War das der
Verbindungsreichtum
jenes Augenblicks?
    Atemlos heiser entrang sich’s mir:
    »Ist der Knabe, den sie Io-Knirps nennen, der meinige?«
    »Die dritte Frage ist beantwortet«, kam es streng zurück. Ich hielt die Hände vor die Augen. Nicht mehr wagte ich zu sprechen. Als ich nach einer Weile aufsah, war der Hochschwebende verschwunden. Das heißt, er klebte wieder oben in einer Ecke des Gewölbes, hoch über den Hängematten und Fischernetzen aus silbernen Spinnweben, als ein dunkles Bündel, eine sonderbare Kesselpauke, dicht an den Felsen gepreßt. Er litt an einem Leiden, das mir, dem Urmenschen, noch unzugänglich war. Von meinem Leben, welcher Art immer es sein mochte, nahm er keine Notiz mehr, obwohl er von diesem Leben hundertmal mehr wußte als ich selbst. Gebieterisch schwankten die Gewebe der wundervollen Sternspinnen ringsum unter der Wölbung der Kanzleihöhle. Nun wußte ich, daß die Spinnweben des Arachnodroms ein Archiv wohlkonservierten Geschehens waren, das man im »Comptoir« registrierte.
    Als ich später den Djebel verließ, war ich nicht mehr derselbe, wie ich ihn betreten hatte. Ich kann es weniger eine moralische Veränderung nennen als eine Verwandlung meines ganzen Lebensgefühls. Sie dauert auch jetzt noch an, da ich in einer frühen und ziemlich primitiven Welt diese Seite hier beende.

Sechzehntes Kapitel
    Worin ich am Rande eines Dschungels der mentalen Epoche stehe und Zeuge des Exodus der Hauskatzen sowie des ersten Blutvergießens werde.
    Meine dumpfe Ahnung, die während des Ganges durch die Lamaserien des Djebels nicht von mir gewichen war, hatte mich nicht betrogen. Irgend etwas Unangenehmes bereitete sich vor. Ich münzte anfangs meine Besorgnis auf das Haus und den Zirkel meiner neuen Freunde. Glücklicherweise war das ein Irrtum. Was sich da heimlich vorbereitete, betraf vorerst nicht eine einzelne Familie, sondern die ganze Welt-Wohngemeinschaft, die ganze Panopolis, deren innere Grenzen, wie man uns schon verraten hatte, nur geistig und daher nicht markiert waren. Die Unifikation der Menschheit

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