Stern der Ungeborenen
dargestellt, dessen Herz mit dem Herzen Jesu Christi, der sich vom Himmel zu ihm herabbeugt, durch einen weißsilbernen, sehr materiell gemalten Lichtstrahl verbunden ist. Zu meinem Schrecken sah ich nämlich, daß von meiner Brust eine Art gelblichweißen Zwirns- oder Garnfadens ausging, den der Hochschwebende mit überraschend flinken Krüppelfingerchen auf eine gläserne Handspindel aufspulte. Es entstand dadurch mit ziemlicher Geschwindigkeit ein breites Spinngewebe, das von der Spindel herniederhing, wobei man deutlich sehen konnte, daß der Faden kein Faden war, sondern eine bestimmte Sorte von erschlafftem, konserviertem, ja eingefettetem Lichtstrahl. Das ist der wichtigste Augenblick meines Lebens, dachte ich, den er da aus meiner Herzgrube spult, selbstverständlich nicht die dumme Anekdote vom Meerschiff im Flüßlein und auch nicht jene ekelhafte Offenherzigkeit, Benoit betreffend, sondern die Mördergeschichte vom Infanteristen, die ich mit Aplomb aus meinem Lebensknäul herausgewickelt habe, weiß Gott, warum gerade diese Geschichte, die er mir nach Diktat wieder erzählen wird. Alle wirklich wichtigen Augenblicke scheinen sich in mir verkrochen zu haben wie die Fledermäuse vor dem Tag. Inzwischen war das von der Handspindel niederhängende Gewebe so lang geworden wie ein kleiner Spitzenshawl. Der Hochschwebende – er war jetzt fünf bis sechs Fuß über mir – ließ es fallen, so daß es auf mich herabschwankte, viel langsamer noch als Flaumfedern. Als das konservierte Licht mein Gesicht erreichte, befand ich mich –
Befinde ich mich … Wo befinde ich mich? Ich befinde mich vor allem in mir selbst. Dieses Ichselbst ist aber ein anderes als es vorher war. Meine
Zunge
stößt links oben nicht mehr an Gold, sondern an eine normale Zahnreihe. Ich bin jünger, ich bin jung. Das merke ich am Herzschlag, an der Spannung aller Muskeln, und es ist einen Blitz lang ein erquickendes Bewußtsein, ehe es sofort wieder zur Selbstverständlichkeit geworden und vergessen ist. Dann entdecke ich in diesem Ichselbst – noch lange bevor ich etwas sehe und höre – eine unsichere Verlegenheit, eine sich steigernde Nervenqual. Was ist das nur, was mich mit sehnsüchtiger Macht anzieht und zugleich wünschen läßt, ich wäre zehntausend Meilen von »Hier« und viele Jahre von »Jetzt« entfernt, obwohl ich noch immer nicht weiß, wo dieses Hier und Jetzt sich zur Einheit verbunden hat. Ich weiß nur, daß ich mich wie ein Mörder fühle.
Das erste, was ich sehe, ist die weiße Tür, die ich unendlich behutsam hinter mir geschlossen habe, als könnte ich dadurch die Wirklichkeit ein bißchen hinausschieben. Ich bin zu dieser Tür über einen langen Korridor gekommen und habe einige schwere Herzschläge lang gezögert, ehe ich klopfte und die Klinke niederdrückte. Man erwartet mich. Ich trete in eine Stille, die viel tiefer ist als die Stille draußen. Ein kahler weißer Raum. Viele Blumen. Ein Hospitalszimmerchen. Das Fenster steht offen. Es ist August, vier Uhr nachmittags, und die schwere Luft eines großstädtischen Sommertags dringt herein. Auf dem weißlackierten Krankenbett liegt die Frau, die ich liebe. Sie kann sich nur wenig bewegen. Mit einem Blick begrüßt sie mich, in dem ein Lächeln des Glücks und das Entsetzen der letzten Tage miteinander lebt. Ihr langes blondes Haar liegt offen neben ihr auf den Kissen. Sie ist blutlos weiß im Gesicht, aber niemals war ihre Schönheit glorreicher. Die Frau, die ich liebe, ist nicht meine Frau, noch nicht. Ich bin sogar verpflichtet, in dieser furchtbaren Situation, fremd und harmlos zu tun. Eine Krankenschwester neigt sich dort über das Körbchen, in dem das Kind liegt. Ich muß mich beherrschen, um nicht laut aufzustöhnen. Wie ist es nur möglich, daß man von der eigenen Verworfenheit so überzeugt sein kann wie ich und doch weiterlebt? In andern Stunden sage ich mir manchmal als Strafverteidiger meiner selbst: Es gehören zwei dazu.
Jetzt aber weiß ich, daß die Frau, selbst als Sündige, die Heldin ist und das Opfer. Ich war nichts als ein leichtsinniger, gedankenloser, verantwortungsferner Ausbeuter des berauschenden Gefühls, das ich Liebe nenne. Wieso ist das Liebe? Liebe beginnt erst dort, wo man etwas aufs Spiel zu setzen und zu verlieren hat. Was habe ich zu verlieren? Ich bin ein Bohemien oder so etwas ähnliches. Ich mache Gedichte und schreibe Theaterstücke, von welcher ebenso schleuderhaften wie ehrgeizigen Tätigkeit ich und
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