Stern der Ungeborenen
uns ein anderes Stück zu sehen bekommen«, bemerkte B. H. ungenau, dann wandte er sich mit einer kleinen Kopfneigung an den Wortführer hinter uns: »Ich will aber Ihren Erklärungen nicht vorgreifen …«
»Der Sympaian«, holte der schöne Älteste geschmeichelt aus, »der Sympaian ist ein Gesamtkunstwerk …«
»Gesamtkunstwerk«, unterbrach ich ihn erschrocken, »dieses Wort habe ich früher schon gehört. Auch das Gesamtkunstwerk selbst, so kommt es mir jetzt vor, hab ich früher schon gehört. Es dauert meist fünf Stunden. Dampf steigt aus der Tiefe und herrliche Musik, die nicht beginnt und nicht endet, und der bärtige Sänger im Wolfspelz wechselt nervös seinen langen Speer von einer Hand in die andere …«
B. H. legte den Zeigefinger leicht an die Lippen. Es zeugte von der schlechtesten Erziehung, einem Wortführer gleich in den ersten Satz seiner Causerie hereinzufahren. Dieser jedoch ließ sich nicht beirren: »Sympaian ist ein Gesamtkunstwerk«, begann er von neuem, »zu dessen Schöpfung sich ein Dichter, ein Musiker und ein Publikum kooperativ zusammentun …«
Ich muß so betroffen dreingesehen haben, daß Io-Fagòr mir hilfreich zulächelte, während er sagte:
»Wir wollen Seigneur nicht durch eine lange Causerie über den modernen Sympaian ermüden. Er möge ruhig die Fragen stellen, die ihm auf den Lippen brennen. Die Angelegenheit schlägt ja in sein eigenes Fach.«
Mir tat der Wortführer leid, dem immer wieder sein berufliches Recht zur Causerie entzogen wurde. Dennoch machte ich von Io-Fagòrs Anerbieten raschen Gebrauch und fragte:
»Ich verstehe nicht, wieso das Publikum als Mitautor des Gesamtkunstwerkes genannt wird? Führt man denn nicht ein längst geschriebenes und komponiertes Stück auf, das entweder seinen Erfolg schon errungen hat oder, wenn es eine Novität ist, heute abend zu erringen haben wird?«
Alle sahen einander mit nachsichtigem Lächeln an.
»Aber F. W.«, sprach der Wiedergeborene milde zu mir, wie zu einem Kinde, »die Zeiten sind längst vorüber, wo man dem Publikum versteinte Kuchen servieren durfte.«
Hier mischte sich GR 3 mit ihrem klangvollen aber equivoken Kontra-Alt ins Gespräch: »Ich erinnere mich noch sehr gut an jene versteinten Kuchen. Sie schmeckten mir besser als die heutigen Sympaians.«
»Ich bin kein Barbar, Madame«, sagte Io-Fagòr, »ich weiß, daß die frühere, elaborierte Methode manches für sich hatte. Vergessen Sie aber nicht, daß die Schwierigkeiten, die man den alten Dichtern in den Weg legte, das Maß erlaubter Künstlichkeit überschritten. Jeder Vers mußte einundzwanzig Silben enthalten und sich dreimal reimen, am Anfang, in der Mitte und am Ende. Zehn Jahre schwerer Arbeit waren nötig, um unter solchen Bedingungen ein Stück zu vollenden …«
Hier gelang es dem klassizistischen Wortführer, sich wieder zur Geltung zu bringen: »Diese erhabene Künstlichkeit, oh mein Hausvater«, sagte er, »war doch nur die Folge des scham- und zügellosen Realismus vorher, der vom Dichter, der einen Beinbruch schildern wollte, die amtlich gestempelte Bestätigung forderte, daß er sich selbst ein Bein gebrochen habe.«
»Sie haben recht, mein Freund«, nickte Io-Fagòr gnädig, »schließlich aber war es langweilig, immer wieder zu beobachten, wie in den Künsten die Schule A auf die Schule B und die Schule B auf die Schule A folgt.«
»Was verstehst du, teuerer Mann, unter der Schule A und der Schule B«, lachte Io-Rasa, und es schien, sie wollte ihrem Gatten zu einem kleinen Erfolge verhelfen. Io-Fagòr antwortete mit einer Maxime, die er merklichermaßen für solche Gelegenheiten bereit hielt. Ich nahm’s ihm nicht übel, ich kenne Künstler und Schriftsteller, die dasselbe tun. Er sagte: »Die Seichtigkeit der Schule A ist so tief, daß sie sich vergebens verständlich zu machen sucht, und die Tiefe der Schule B ist so seicht, daß sie sich vergebens unverständlich zu machen sucht.«
»Bravo, Compère«, applaudierte ich höflich, obgleich ich solche antithetische Wortspiele nicht besonders schätzte. »Bereits wir Barbaren haben diese beiden Schulen gekannt, die einander regelmäßig ablösten. Wir nannten den Gegensatz von Schule A und B naturalistisch und symbolisch. Manchmal aber vermischten Schule A und B die Fehler beider Stile, dann entstand ein säuisches Getümmel, das sich futuristisch, expressionistisch, surrealistisch nannte oder auch anders …«
Die Gesellschaft sah mich verständnislos an. Was sollte
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