Stern der Ungeborenen
tieferen Ungleichheiten des Lebens, als es die materiellen sind, in den Vordergrund: die Ungleichheiten der Schönheit, der Kraft, des Willens, des Charakters, der Idiotie, des Zynismus, der Indolenz, der Schlauheit, des Talents, der Geistesschärfe, all das, wofür man nur Gott und Natur, aber keine herrschende Partei oder Klasse verantwortlich machen konnte. Ich möchte aber durch diesen meinen Report aus ferner Zukunft keine Panik unter unseren Politikern hervorrufen, die leicht auf die schädliche Idee kommen könnten, daß die einzige Hoffnung für ihr Gewerbe in der heimlichen Schonung der materiellen und potentiellen Ungleichheit liegt.
Es dürfte demnach kein Zweifel darüber herrschen, daß sich das Theater mit dem füllte, was man einst in Frankreich die »zweihundert Familien« nannte, samt dem Anhang, der dazu gehörte, als da waren Wortführer, Hausweise, Beständige Gäste, wozu ich noch die bisher nicht vermeldeten »Leibesgärtner« oder »Rekreatoren« hinzufügen muß, das sind Hygieniker oder wenn man will Leibärzte, die sich einige der ganz großen Häuser leisteten. (Die medizinische Praxis des Zeitalters bestand freilich zum größeren Teil aus Vorbeugung und zum kleineren Teil aus Heilkunst, da ja die Krankheiten beinahe auf einen symbolischen Rest zusammengeschmolzen waren.) Auch die athletischen Stutzer, Gigerln, Gecken erkannte ich wieder, obwohl sie nicht in leuchtender Nacktheit, sondern in Festgewändern erschienen waren.
Ich wiederhole, es war die schöne, die große Welt, die sich im Theater versammelte, mit welchen Worten ich aber keineswegs behaupten will, daß es eine bessere Welt gewesen ist als jede andre »gute Gesellschaft« im Laufe der Geschichte. Ich hatte, wie man sieht, schon einen Blick für die sozialen Unterschiede bekommen, die soviel verwischter und differenzierter sich darboten als die plumpen Gegensätze meiner eigenen Zeit. Bei der Aufzählung meines Publikums darf ich keinesfalls der Mutarianer vergessen, jener wunderlich wunderbaren Brüderschaft, die durch einen heiligen Willensakt blind und taub geworden waren, um den Menschen an den großen Wendepunkten ihres Lebens selbstloser dienen zu können. Jedes Brautpaar hatte seinen Mutarianer neben sich wie das unsrige Io-Fra. (Ich hätte fast geschrieben Fra Angelico.) Dieser lag mit einem mir unvergeßlichen, versunkenen Lächeln auf dem Gesicht zu Füßen Io-Dos und Io-Las, immer bereit aufzuspringen, um etwas zu suchen, Botengänge zu machen, jemanden herbeizurufen oder auch nur mit seinem inneren Gehör unausgesprochene Wünsche zu erlauschen. Der größte Teil des Publikums stand noch auf den Füßen und reckte sich die Hälse aus, um den Kranz der Brautpaare zu bewundern. Der Sympaian heute abend war der Höhepunkt der Saison. Über Schmuck, Pelze und Kleider hatten die Damen freilich wenig Gesprächsstoff, war doch die Gewandung trotz verschiedener Nuancen ziemlich uniform. Ich bin aber bereit, letztere Bemerkung sofort zurückzuziehen, da sie teils aus meiner Unkenntnis der astromentalen Mode und ihrem Raffinement, teils auf meinem Astigmatismus beruhn mag. Es gehörte ferner zum Brauche dieses Abends, daß jeder Bräutigam mit dem werkzeuglichen Abzeichen seiner Lieblingsbeschäftigung erschien.
Da die wirkliche Arbeit der fernsten Vergangenheit und Vergessenheit angehörte, und selbst Erdgrabungen, Maurer- und Zimmermannswerk mental und ohne Zutun menschlicher Hände erfolgten, so war es nur zu verständlich, daß Dilettantismus und Spleen aller Arten an Stelle der einstigen, blutigernsten Mühe getreten war. Die Idee des zwecklosen Spiels beherrschte, wie schon bekannt, die Zeit. Selbst der höchsten Ausprägung des astromentalen Geistes, der Chronosophie im Djebel, war der Gedanke der Nützlichkeit oder Verwertbarkeit von Ergebnissen völlig fremd. Wahrhaftig, die Menschen taten es den Göttern gleich. Was aber ist der Lebenszweck der Götter anderes als der vollkommene Genuß ihrer selbst? Die werkzeuglichen Symbole, welche die Freier zum Erweise ihrer Spielfreudigkeit mitgebracht hatten, waren von der verschiedensten Art. Einer hielt eine sehr große Guitarre in der Hand, ein Instrument übrigens ohne Saiten. Dadurch gab der junge Bräutigam der Welt zu verstehen, daß er sich mit einer ganz bestimmten Sorte von Musik befasse. Von Malern, die mit leerer Palette, Malstock und unbenutzten Buketts von Pinseln erschienen waren, gab es unter den Verlobten keine geringe Zahl, mehr zum Beispiel als
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