Stern der Ungeborenen
duftenden Hände, hauchte je einen Kuß auf die Wundmale ihrer Normalisierung, das heißt ihrer Rückfälligkeit, und nahm Abschied von Lala, die unter allen Frauen meiner näheren Bekanntschaft die mir Unbekannteste ist und bleibt.
Zwanzigstes Kapitel
Worin ich die Mission des Unterhändlers zu erfüllen versuche, eine tonlose Rede halte und die orangerote Flamme sehe, in welcher einst der Mond vergehen wird.
»Es ist keine Kälte und Gleichgültigkeit, da irrst du gewaltig«, sagte B. H., als wir zwei Minuten allein waren. »Die einzige Kälte und Gleichgültigkeit ist die, welche Trauer hervorkehrt, um die anderen zu quälen.«
»Meinst du GR 3 ?« fragte ich. »War Lala nicht immer ihr Lieblingssprößling, und hat sie ihn nicht gehütet wie ihren Augapfel?«
» GR 3 hat Lala beneidet bis zum Haß, denn eine Folge der ewigen Jugend ist es, daß starke weibliche Charaktere nicht abdanken können. Io-Fagòr aber und Io-Rasa sind tief gebeugt, wenn du ihnen selbstverständlich auch nichts ansiehst.«
Man sah dem Elternpaare Lalas nichts an, genau wie B. H. es gesagt hatte. Man hätte beinahe glauben können, sie dächten nicht daran, ihre Tochter zu kritisieren, und der Verlust sei schon überwunden. Es geschah nicht einmal, daß man darüber zu sprechen vermied. Man sprach darüber mit unpersönlicher Teilnahme. Wie bewundernswert war die Haltung, welche das Menschengeschlecht gewonnen hatte seit jenen Zeiten, wo man irrende Kinder verstieß und verfluchte und ihre Namen aus dem Herzen riß. Dabei war doch in diesen Tagen der Monopädie ein Kind soviel mehr wert als einst, wo viele Frauen beinahe Jahr um Jahr schwanger gingen. Da vorzeitiger und unfreiwilliger Tod (bis auf einige Ausnahmsfälle) überhaupt nicht vorkam, so konnten Eltern ihren Sohn und ihre Tochter nur durch und an das Leben verlieren. Und auch das geschah selten genug, da alle Reibereien der ökonomischen und sozialen Urgeschichte entfielen und keine Rang-, keine Erbstreitigkeiten, sondern höchstens Gefühlszwist und philosophische Andersmeinung Familien zu entzweien vermochten. Hier aber war’s geschehen. Io-Fagòr hatte seine Tochter verloren wie Io-Solip seinen Sohn. Was übrigens unter den Verschworenen vorging, wo sich ihr Hauptquartier befand, wie und seit wann sich diese Mafia entwickelt hatte, das wurde aus irgendeinem allgemeinen Schamgefühl vor mir geflissentlich verdunkelt, was der Erfüllung meiner Mission gewiß nicht günstig war.
Man kann sich vorstellen, mit welch peinlichen Empfindungen ich vor Io-Fagòr, Io-Rasa und die ganze Hausgemeinschaft hintrat, um Rechenschaft über meinen gescheiterten Versuch abzulegen, Lala heimzulocken. Selbst mein Vergil war ganz bestürzt darüber, in welche schwierige Situation ich dadurch geraten war, daß er mich aus dem Alphabet gestochen hatte. Da hatte der wirkliche Vergil seinen Schutzbefohlenen in weit geringere Schwierigkeiten gestürzt, blieb derselbe doch bis auf ein wenig Mitleid völlig ungeschoren von den Kalamitäten der Hölle, die er bereiste. Dante beobachtete die grausamst berühmten Episoden immer schön von außen und wurde in keinerlei Konflikt persönlich hineingezogen, was vielleicht damit zu tun hat, daß er sich als einziger Lebendiger unter lauter Toten bewegte, während bei mir die Sache gerade umgekehrt war. Freilich, es gehörte das gewaltige Dichtergenie einer gewaltigen Epoche dazu, aus einer puren »Besichtigung« ohne persönliche Einverwobenheit, ohne Intrige, Verwicklung, Erotik und andere Rücksichten auf das mehr oder weniger lesende Publikum den millennaren Bestseller der ›Göttlichen Komödie‹ zu schaffen und noch dazu in demantenen Terzinen. Versuche das heute einer.
Das Merkwürdigste war: Die Ahnfrau hatte nicht geschwatzt. Lalas Eltern schienen nichts von dem nächtlichen Besuch ihrer Tochter in meinem Zimmer zu wissen, oder sie gaben vor, nichts zu wissen. Die Diskretion von GR 3 erfüllte mich mit unangenehmen Empfindungen. Es war mir nicht wohl zumute bei dem Gedanken, mit ihr ein Geheimnis zu teilen. Ich gab daher, soviel Überwindung es mich auch kostete, Lalas nächtlichen Besuch in meinem Zimmer preis, ohne freilich meine Aufrichtigkeit zu weit zu treiben. Ich verschwieg selbstverständlich Lalas Antrag und meine eigene Verliebtheit, was mir niemand verdenken kann, und sprach nur von des Mädchens Wunsch, ihr als Begleiter in den Dschungel zu dienen. Von der Schuld allerdings, nächtens nicht sogleich Lärm geschlagen zu haben,
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