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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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wären’s nur Betäubungsmittel. Jene Geschosse aber enthalten Wahrsinn. Wirst du von einer solchen sechsundzwanzigkalibrigen Selbstanalyse getroffen, dann hilft dir kein Opiat mehr. Sie schießen mit entsetzlichen Ernüchterungen. Sie machen bewußt, was nie bewußt werden darf. Sie imprägnieren den Verwundeten mit dem radikalst negativen Aspekt des Lebens, so daß er sich nicht einmal mehr wünscht, dahinzuscheiden … Da, sieh nur!«
    B. H. wies erbleichend in den großen hellerleuchteten Speiseraum, zu dem die Tür offenstand. Dort begab sich folgendes: Ein Mann, der vor Verfolgern zu fliehen schien, stürzte mit einem summenden Klagelaut vom Eingang zum Ausgang, in dem er verschwand. Die lähmende Medusenfratze des Schreckens, die nicht mehr menschliche Maske dieses Gesichtes werde ich nicht vergessen. Ich werde sie aber nicht beschreiben, denn sie steht mir jetzt so lebhaft vor Augen, daß ich das Grauensbild lieber verjage. Hätte der silberne barocke Kopfaufsatz, der dem Mann vom nackten Schädel fiel, ihn nicht verraten, ich hätte nie und nimmer den Hausweisen erkannt, jenen von den drei Junggesellen, der vom Wortführer stets tyrannisiert wurde. Letzterer sowie der Beständige Gast, Io-Fagòr und andere mehr kamen gelaufen, um den Unglücklichen festzuhalten und ihm beizustehen. Das Entsetzen aber gab ihm Flügel. Ich hörte, wie die Jagd in dem sonst so stillen Hause verhallte. Mir waren Zunge und Gaumen trocken.
    »Verwundet«, fragte ich, »von einer Depression verwundet?« und meine Stimme klang ganz rauh.
    »Vielleicht nur gestreift, von einem panischen Trauma gestreift«, flüsterte B. H. »oder von einem Sprengstück der sogenannten Erfüllungsenttäuschung. Er hatte sich oben verspätet und ist in eine Verkehrsstockung geraten, denn die Zusammenstimmer sind den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Doch was tut’s? Auch hier in den Häusern sind wir schutzlos …«
    Ich fuhr hoch und streckte mich starr.
    »Und was hat man beschlossen, B. H.? Was gedenkt man zu tun?«
    »Nur Ruhe, mein Lieber, Guter«, bat der Freund, beinahe flehentlich. »Starke Nerven sind die einzige Abwehrkraft, über die unser Organismus verfügt. Und nun bitte setz dich wieder schön nieder und erlaub mir, ein paar offene Worte zu sagen …«
    Er nahm meine beiden Hände und zog mich auf den Sitz zurück. Da ich sah, daß Tränen in seinen guten dunklen Augen standen, wurde ich für einen Augenblick etwas weicher und gefügiger.
    »Ich bin der Schuldige, F. W., und ich leugne es nicht«, begann er. »Es ist natürlich kein Zufall, daß ich gerade dich aus dem Alphabet gestochen habe und zitieren ließ.«
    »Wozu diese alten Geschichten«, unterbrach ich ihn, wieder grob werdend, »das ist doch augenblicklich alles Zimt …«
    »Was ist es?« fragte er verständnislos. »Meinst du etwa, es sei gleichgültig? Mir ist es nicht gleichgültig. Gewiß, ich bin schuld daran, daß du hier bist. Aber ohne Zweifel hast du an dem Ort, wo du warst, an mich gedacht und dich dadurch in Evidenz gebracht.«
    »Meines Wissens, B. H., hab ich zuletzt im April 1943 an dich gedacht, und zwar mit ziemlich schlechtem Gewissen. Etwas lange her, nicht wahr? Ob ich im Fegfeuer – das scheint meine ständige Adresse zu sein – an dich gedacht habe, das weiß nur Gott allein. Die Lokalität ist eine einzige Depression und Melancholie, aber soweit ich’s im Gefühl habe, läßt es sich ertragen, und man hat ein paar Chancen und ein Ziel. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es jedenfalls eine weit bessere Adresse als diese hier …«
    »Aber das ist ja ganz die Meinung des Hauses Io-Fagòr«, rief B. H. und lächelte mit gespielter Überraschung.
    »Von was für einer Meinung sprichst du?« brummte ich.
    »Ich spreche nicht von den diversen Vorstellungen, die sich die Familienmitglieder vom jenseitigen Leben machen. Ich spreche davon, daß sie allgemein beschlossen haben, das diesseitige Leben zu verlassen; etwas vorzeitig die meisten von ihnen, aber auf völlig legitime Weise, freiwillig nämlich und zu Fuß. Die letzte Wegstrecke zum Wintergarten legt man zu Fuß zurück. Trotz deiner Theorien vom Gefahrenwerden, F. W. Angesichts des unabsehbaren Schreckens, welcher vor uns liegt, halte ich diesen Beschluß für nicht unvernünftig. Was die tiefgebeugten Eltern der Hochzeiter anbetrifft, so ist dieser Beschluß sogar verständlich, auch wenn man nicht an den Schrecken denkt, der vor uns liegt. Keinesfalls aber konnte ein

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