Stern der Ungeborenen
mich an. Wir beide boten einen beklemmenden Anblick.
»Was ist das, der retrogenetische Humus?« fragte ich, und meine eigene Stimme klang mir erstickt im Ohr.
»Die Wonne aller Wonnen«, schnapperte der Animator, aber jetzt nicht vor Kälte, sondern vor Verzückung. »Die Herren haben ja selbst vorhin in einer schwachen Lösung des retrogenetischen Humus ihr erstes Bad genommen.«
Um einen Reisebericht aus fernster Zukunft wie diesen ohne Widerstände und vielleicht sogar mit einigem Gewinn zu verfolgen, muß man sich frei machen von der verhärteten Denkweise des eigenen Zeitalters. Ich selbst hatte dieser Forderung zu genügen und, weiß Gott, es gelang mir nicht immer, obwohl ich doch den Vorzug des eigenen Erlebens und der unmittelbaren Anschauung genoß. Ich habe alles in allem zweieinhalb Tage und drei Nächte in der astromentalen Welt zugebracht. Doch auch das ist nur eine subjektive Aussage. Ich weiß nicht, ob es in Wirklichkeit zweieinhalb und drei Augenblicke oder Einviertelstunden oder ebensoviele Ewigkeiten waren, von denen jenes Strandgut zurückblieb, mit dem der vorliegende Band gefüllt ist. Nachdem wir schon so viele Arten von Zeit kennengelernt haben, die superplanetare Zeit im Niederen Intermundium, die statische Zeit des Fegefeuers, und nun der autobiologischen Zeit des Wintergartens entgegengingen, so möchte ich die wichtigste aller Zeitdimensionen, in denen der Mensch lebt, nicht unbeschworen lassen. Es ist die »geistige Zeit«.
Diese herrlichste Form der Zeit zeichnet sich dadurch aus, daß sie kein Nacheinander kennt, daß sie in jedem ihrer Teile den ganzen Weltlauf enthält, daß sie dem, der ihr angehört, die Freiheit gibt, regellos von einem ihrer Punkte zum andern zu springen, und ihn in demselben Augenblick zum Zeugen des Ersten Schöpfungstages und des Jüngsten Gerichts macht. Auf der geistigen Zeit beruhen die drei Kräfte, die den Menschen erst zum Menschen erheben: Die Erinnerung, die Ahnung und der Glaube an das Unbeweisbare. Die schlimmsten Feinde der geistigen Zeit aber sind die Armen, die nicht regellos von Zeitklippe zu Zeitklippe springen können, die nicht von Erinnerung und Ahnung umsponnen sind und die nichts Unbeweisbares glauben dürfen. Es sind zugleich auch die, welche immer falsch fragen, da sie alles ganz genau wissen wollen, schon deshalb, weil sie es auch ungenau nie verstehen könnten. Nur der Vorzug, daß wir geistige Zeit in uns tragen, gibt dem Leser und mir die Möglichkeit, im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau präsent zu sein, ehe dieses noch selbst Präsens ist.
Wir brauchen aber keine geistige Zeit dazu, um uns vorzustellen, daß es irgendwo in den Schichten des erstarrten oder halberstarrten Erdinnern Hohlräume gibt, die uns – wenn ein Dämmerlicht sie erhellt – als absonderlich traurige Herbstlandschaften erscheinen. Das ist nichts als ein annehmbares Faktum, wie es etwa unbekannte Tierarten sind. Wir brauchen nicht einmal geistige Zeit dazu, wenn wir den gewaltigen Hohlraum des Wintergartens mit denselben Worten bezeichnen, wie es der Animator tat: »Uterus terrae matris« – »die Gebärmutter der Mutter Erde«.
Daß hier der feuerflüssige Urkern des Mondes sich befand, ehe er an die Oberfläche wallte und ausgeschleudert wurde, ist ebenfalls ein annehmbares Faktum, aber zum Unterschied vom ersten nicht nur ein bloßes Faktum, sondern eines, hinter dem sich schon ein Gleichnis verbirgt: das Gleichnis zwischen Erdenweib und Weiberde. Doch nur die geistige Zeit, die uns durchströmt und die realisiert, was gewesen ist und was sein wird und sogar das, was niemals gewesen ist und niemals sein wird, gibt uns die Kühnheit, den »retrogenetischen Humus« und die »Rückentwicklung der lebendigen Form« und die »astromentale Überwindung des Sterbens« hinzunehmen als das, was sie sind: In der Dämmerung der Ferne vorerschaute Möglichkeiten, welche die Natur und die menschliche Vernunft nützen oder verwerfen wird.
Es wäre reines Gefasel, wenn ich behaupten wollte, daß der retrogenetische Humus ein Produkt des Hohlraums war, den der Animator »Uterus terrae matris« nannte. Ich weiß nicht einmal, ob dieser Humus nicht oben unter der Sonne oder unter den Strahlen gewisser weiblicher Lichtgestirne im Park des Arbeiters entstand und dann erst in den Wintergarten geschafft wurde. Ich weiß nicht einmal, wann er das erste Mal angewandt worden und wer sein Entdecker war. So kann ich dem großen Astronomen Ursler den Namen des
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