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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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oft auf und ab patrouilliert bin. Und als wäre sie aus der Tür dieses Geruches hervorgetreten, sah ich die junge Dame im langen, hellen Frühlingskleid und breiten Florentiner Strohhut! Sie löste sich von der Menschenmauer los, die auf die endgültige Verabschiedung wartete. Sie glaubte vermutlich das Recht dazu zu haben, weil ich sie als Student angeschwärmt hatte. Herzbeklemmend unverändert war sie, wie sie das Tennisracket hin und her schwang. Sie schien nicht das geringste Gewicht darauf zu legen, daß sie in jungen Jahren an einer schrecklichen Krankheit zu Grunde gegangen war, sondern rief nun mit kapriziöser Ungeduld:
    »Worauf warten wir noch? Ich komme ja zu spät.«
    Genau bei diesen Worten der jungen Dame durchdrangen mich große geistige Erhellungen, und ich würde viel drum geben, daß sie mir nicht ganz und gar unter der Feder zerrinnen wie die meisten Erkenntnisse, die an der Grenze des Sagbaren wohnen. Wie glücklich wäre ich, wenn der Leser, der selbst niemals bis zur Herzgrube im Leichten Wasser des Mnemodroms stand, die Gefahr voll begriffe, der ich ausgesetzt war. Vor allem eins: der retrogenetische Humus führte das Leben bis zum erst-letzten Herzschlage zurück, er bedrohte aber nicht die Persönlichkeit, die er zurückentwickelte; wahrer gesagt, er bedrohte sie nicht viel anders, als es der alte Tod tat. Das Leichte Wasser des Sees aber, das fühlbar an mir sog und sog, bedrohte die Vollzähligkeit meines Ichs, indem es den Inhalt meines Lebens von mir zu trennen suchte. Was war ich? Was sind wir? Mit einem Vergleich will ich’s ausdrücken. Ich war wie eine Photographie. Woraus besteht solch eine Photographie? Aus einer lichtempfindlichen Fläche und aus dem Bilde, das sie festhält. Das Wasser des Mnemodroms versuchte das Bild abzulösen und die leere verbrauchte Fläche übrig zu lassen, mit der später der Animator ein leichtes Spiel haben würde. Das was mich hier im Nebel an Gesichtern und Gestalten umgab, an nahen und fernen, an Zartheiten, Liebheiten, Warmheiten, Neigungen, Abneigungen, das hatte ich mir zu einem einheitlichen Bilde erarbeitet. Obwohl dieses Bild aus Zehntausenden von Strichen und Farbflecken zusammengesetzt war, von denen die meisten ganz zufällig und ganz unwichtig erschienen, bildete es doch ein Ganzes, das keine Auslassung ertrug. Es war mir wie allen andern Seelen gelungen, das Ewig-Flüchtige in ein Flüchtig-Ewiges zu verwandeln, was die große Kunst des Menschen allein ist. Die Gegenwart hat keine Dimension, und deshalb wird das Leben erst dann zum Leben, wenn es nicht mehr ist. Mit einer Gewißheit, mit der mich niemals ein religiöser Glaube durchdrungen hatte, wußte ich jetzt, daß all das gestaltenreiche Leben hier, das rings um mich her Abschied nehmen wollte, meine unveräußerliche Mitgift war, mehr als das, mein eigenstes Weltwerk, das ich Gott darzubringen hatte, der wahre Opferrauch, von dem er sich nährte.
Vergessen,
das war der Inbegriff aller Sünde, die der Mensch begehen konnte. Und weil ich das mit greller Schärfe und tödlicherer Not erkannte, als wortgewordene Gedanken es darstellen können, schrie ich mein Volk an, das mich im Kreise umgab:
    »Hiergeblieben! Nicht fortrühren! Ich gebe euch nicht her. Ich gebe mich nicht hin!«
    Und auch B. H., der dasselbe erlebte wie ich, schrie auf:
    »Ich gebe euch nicht her!«
    Er drückte sich bei diesem Schrei fest an mich. Ich fühlte plötzlich einen Schmerz unter der Herzgrube. Etwas Scharfes war mir in die Haut gedrungen. Ich zog die giftgrüne Handarbeit hervor, die mir eine der Frauen vom Ammenhügel geschenkt hatte. Ich hatte das Ding unter meiner Weste verborgen. Jetzt wickelte ich’s auf. Es war ein langer starker Streifen. Man konnte ihn als Seil verwenden, denn eines der Enden war mit einem Stein beschwert und trug einen rostigen Haken. Vielleicht waren die Ammen gar nicht so leer und schwachsinnig, wie sie erschienen. Uns haben sie jedenfalls gerettet. Es kostete freilich viele, viele kraftraubende Würfe, ehe der Haken an der Spitze des elastischen Streifens irgendwo das morsche Holz der Brücke enterte, wo sie über den See hervorragte. B. H. umfaßte mich. Wie es mir gelang, die doppelte Last aus dem Wasser zu ziehen, kann ich nicht sagen. Doch es gelang mir. Oben auf der Brücke fielen wir keuchend hin.
    »Nicht schlafen«, mahnte ich den Freund, »nicht schlafen.«

Vierundzwanzigstes Kapitel
    Worin wir nach neuen Abenteuern höchst erstaunlicherweise auf die intakte

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