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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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jetzt nicht, daß der Seleniazuse, über seinem Fundament schwebend, schläft. Er ist ein Überwinder und Auserwählter. Der normale glückliche Schläfer wird zur Erde, wird zum Planeten. Der Planet aber kreist um eine höhere Ordnung, um den Sonnenstern. Und er kreist auch um sich selbst. So hat er eine Tagseite und eine Nachtseite, welche die Sonne nicht besitzt. Was die Nachtseite des Planeten, das ist der Schlaf des Menschen. Der Schläfer steht sich selbst im Lichte, um sich vom Geiste auszuruhn. Warum aber tut er das? Weil er sich auf sein vegetatives Fundament, seinen Körper, seine Planetartigkeit verlassen kann. Ich aber kann das nicht, B. H., nein, nein, so schrecklich das ist, ich kann es nicht. Mein Körper war noch vor wenigen Stunden wie Luft, nichtiger als Luft. Er war nicht einmal ein Schatten, nicht einmal ein ektoplastisches Phänomen, er war wie ein ruchlos Ermordeter, den die Mörder in einem Keller vermauert haben, und nach einigen Jahren sucht ihn die Polizei nicht mehr, weil von ihm ja nichts Eigentümliches und Erkennbares mehr vorhanden sein kann, und der Mordfall F. W. wird aus den Gerichtsakten getilgt und vergessen bis zum Jüngsten Tage. Denk das einmal bis in den Grund aus, B. H., diese Verschwundenheit, diese Verlorenheit, diese Vergessenheit. Jetzt freilich scheint mein Körper normal zu sein. Wer aber beweist mir, daß dies keine Täuschung ist? Du selbst hast mich vor Anstrengungen gewarnt, sogar vor der mäßigen Anstrengung des Sprechens. Es sind deine Worte, daß man mich aus den ›verborgenen Fonds der Materie‹ und aus den ›geheimen Garderoben der Unsichtbarkeit‹ wiederhergestellt hat. Ich finde das ganz und gar schrecklich. Damit experimentiert man doch nicht. Nein, sage nichts. Es ist einmal geschehen, und ich will dir keinen Vorwurf machen. Warum auch Vorwürfe machen, da du mir ja zu einem Genuß verholfen hast? Ich genieße nämlich, meiner lumpigen Natur gemäß, auch diese absurde Form des Daseins aus vollen Zügen. Daß ich’s tue, ist ein Beweis für Io-Sums Lehre, daß Gottes Liebe sich ausdrückt im Willen der Geschöpfe, lieber zu sein als nicht zu sein, trotz allem. Ich weiß nicht, ob ich mich heute für ein
echtes
Geschöpf halten darf – jener Wille aber, der die Liebe Gottes ist, lebt in mir. Daher mein Schreck, daher meine Furcht. Kann ich mich auf mein Fundament verlassen, das ich, entsetzlich zu denken, nur einem spiritistischen Zirkel verdanke? Wohin versinke ich, in was tauche ich unter, wenn ich einschlafe? Verstehst du mich endlich, B. H.? Wenn es mir nicht gelingt wachzubleiben, werde ich mich verlieren. Das sagt zu wenig. Wenn ich einschlafe, werde ich mich verlieren in der Einöde eines Verlorenseins ohne Beispiel und ohne Namen. Das fühle ich. Das fürchte ich. Das hat mit echtem Tode nichts mehr zu tun. Das ist ein Tod, zu verbotener Potenz erhoben. Den echten Tod kenne ich. Der ist einfach und schlicht und handfest, und man sollte ihn nicht als Knochen- und Sensenmann darstellen, sondern als alten Bauern, der prüfend in den Sonnenuntergang schaut. Aber ein zweites Mal sein Ich aufgeben müssen, weil man dem Schlaf in die Falle geht, das ist zu viel, ah, viel zu viel …«
    »Ich habe mein Ich viele Male aufgegeben«, sagte der Wiedergeborene nach einer Pause, »aber ich verstehe dich, F. W.«
    »Wachet und betet«, hauchte ich. »Laß uns wenigstens wachen. Kann ich noch einen Schluck von dem Chaudeau bekommen?«
    »Würde ich nicht empfehlen«, erklärte B. H., »es ist ein ausgesprochener Schlaftrunk.«
    Er hatte sich zu mir aufs Bett gesetzt. Wir schwiegen lange Zeit. Dann machte er einen Vorschlag:
    »Die Menschen spielen auch heute noch Schach. Soll ich ein Brett und Figuren holen?«
    »Schrecklich«, versetzte ich. »Ich habe schon in meiner echten Existenz eine Antipathie gegens Schachspiel gehabt.«
    »Nun, vielleicht fällt dir etwas anderes ein«, sagte er bereitwillig.
    »Hol über, Fährmann, hol über«, sang ich vor mich hin.
    »Hol über, Fährmann, hol über«, wiederholte er dienstfertig meinen Singsang, als habe er die Pflicht, sich eines Liedchens zu erinnern, wisse aber nicht, welches.
    »Ich meine, B. H., du sollst mir verschiedenes erzählen und vielleicht sogar einige Fragen beantworten. Hast du nicht während deiner verschiedenen Existenzen so manches erlebt, gesehen, gehört, erkannt, was wissenswert ist für mich? … Hol über, Fährmann …«
    »Da haben wir’s«, lachte er bitter, und zwei scharfe

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