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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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unentwickelt, deiner Ansicht nach?«
    B. H. wich mir in seiner Antwort aus: »Kultur«, sagte er, »ist eine verschlagene Kunst des Untertreibens und des Ablenkens von der Hauptsache. Bedenke das, F. W., im Umgang mit unsrer astromentalen Gesellschaft.«
    »Darf ich dich bitten, mir noch eine halbe Tasse einzuschenken, B. H.«, forderte ich jetzt.
    »Wie du willst, F. W.«, gehorchte er. »Es ist aber sehr sättigend.«
    Ich schob die frische Tasse nach dem ersten Schluck zur Seite:
    »Du hast recht, B. H.«, gestand ich, »als derjenige, welcher ich bin, habe ich bei derlei Genüssen enthaltsam und vorsichtig zu sein. Es ist übrigens merkwürdig, daß ich in meiner Verfassung so genau den Geschmack einer Speise unterscheiden kann und nicht nur den Geschmack der Speise, sondern auch die Sättigung durch sie deutlich verspüre. Wenn ich zu meinen Lebzeiten nachts geträumt habe, daß ich mich hungrig zu Tische setze, da erwachte ich jedesmal, wenn ich den Bissen im Mund hatte. Jetzt erwache ich nicht, B. H., folglich bin ich wirklich so etwas wie ein überexponierter Geist. Ihr habt mich wie eine photographische Platte zu lange dem Licht ausgesetzt, so daß mein Bild ganz dicht und dunkel geworden ist. Wundre dich also nicht, wenn ich dir eine intime Frage stelle: wohin soll ich mich wenden, wenn ich ein menschliches Bedürfnis verspüre?«
    »Verspürst du ein menschliches Bedürfnis, F. W.?«
    »Nein, mein Lieber, gottlob nicht. Gottlob
noch
nicht. Aber ich fürchte mich schon eine Weile vor dieser sehr antimentalen Möglichkeit.«
    »Du wirst auch nichts verspüren«, lachte B. H. »Wir erledigen das alle fünf Tage nur einmal.«
    »Wie! Was du nicht sagst«, atmete ich auf. »Das ist ja eine prächtige Abbreviatur. Zeitersparnis über Zeitersparnis, bei so wenig Arbeit.«
    »Hör einmal, F. W.«, sagte mein Freund zartfühlend, »ich bemerke jedesmal, daß du zusammenzuckst, wenn ich von den ›Anfängen der Menschheit‹ rede, denen wir beide angehört haben, was sich nicht leugnen läßt. Es waren natürlich nicht die richtigen Anfänge der Menschheit, das weiß ich besser als sonst einer, sondern es waren bereits höchst differenzierte Zustände, nach mehreren Millionen von Entwicklungsjahren. Ich gebrauche also jene Phrase, die dich so schockiert, nur von der heutigen Perspektive her und um meinen Zeitgenossen das Vergnügen zu erhöhen, einen Primitiven materialisiert zu haben. Du kennst mich. Ich bin kein progressivistischer Esel. Auch weiß ich, daß hunderttausend Erdumläufe um die Sonne nur eine winzige Schattenrückung der Geschichte sind. Und doch, der Mensch hat trotz all seiner Grenzen sogar biologische Fortschritte gemacht.«
    »Darüber kann kein Zweifel herrschen, B. H.«, lachte ich laut. »Nur einmal in fünf Tagen die Toilette benützen zu müssen, das nenn ich einen gewaltigen biologischen Fortschritt.«
    »Bitte lach nicht darüber, F. W., wie über einen fäkalen Witz«, wies mich B. H. zurecht. »Unterleibswitze sind heute lange nicht mehr so komisch wie zu deiner Zeit.«
    »Zu meiner Zeit gab es allerlei mittelgroße Schlangen, die nur einmal im Monat ein Mäuschen herunterwürgten und wieder von sich gaben. Schildkröten aber und andre Reptilien und Amphibien hielten mehrere Monate lang Winterschlaf, ohne ein einziges Mal währenddessen ihren Darm zu bemühen.«
    »Deine Reptilien und Amphibien, mein lieber F. W.«, entgegnete mein Freund mit Überlegenheit, »waren eben physiologisch so und nicht anders konstruiert und veränderten sich nicht. Wir aber haben uns biologisch verändert, wir Menschen, nein mehr, wir haben uns verfeinert. Zu deinen Lebzeiten hattest du einen Darm, der aufgewickelt elf Meter lang war. Inzwischen hat er sich dank einer ätherischen Ernährung des ganzen Menschengeschlechts beträchtlich verkürzt. Zu deinen Lebzeiten nannte man das Organ der männlichen Liebeskraft mit dem erniedrigenden Namen ›Harnröhre‹. Graut dir nicht bei diesem Ausdruck für das organische Sinnbild der schöpferischen Potenz? Das ist jetzt anders geworden, nachdem die Abscheidung des Urins nicht mehr durch das Organ der Liebeskraft erfolgt, sondern durch den Darm …«
    »Es war ein sehr großes Unrecht von mir, zu lachen, B. H.«, sagte ich kleinlaut, seine ernste Rede bedenkend. Dann aber streckte ich mich, da ich meine betäubten Glieder kaum mehr fühlte, aufs Ruhelager aus. »Ja, ja«, atmete ich tief auf, »dieser Fortschritt ist mehr als ein Fortschritt, er ist

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