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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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eine Heiligung des Menschen. Leider werde ich persönlich nichts mehr davon haben.«
    »Er
ist
eine Heiligung, F. W.«, sagte der Wiedergeborene fast böse. »Gott nämlich korrigiert sich selbst …«
    »Gott korrigiert sich selbst«, wiederholte ich und stützte mich auf, so müde ich war, »hast du das nicht schon einmal gesagt? Damals … damals …«
    Und ich sah uns beide, den neunzehnjährigen B. H. und den neunzehnjährigen F. W., wie wir, in tiefen Gesprächen befangen, den Höhenweg des Belvederes entlangspazierten und hinabsahen auf das hunderttürmige und barockbrückige Prag, das sich im sonnendurchzückten Nebel bis hinter den Horizont der königlichen Weinberge streckte. Und B. H., der Student, entwickelte mir, dem aufhorchenden F. W., seine metaphysische Philosophie, deren ich mich jetzt Wort für Wort erinnerte und die mir viel schlagkräftiger und goldkarätiger erschien als die von Sophistes Io-Sum und Sophistes Io-Clap zusammengenommen. Und da ich mich genau an diese Philosophie erinnerte, rief ich sie ihrem Begründer ins Gedächtnis, der mir kopfschüttelnd zuhörte und sich über mein Echauffement verwunderte.
    »Also hast du gelehrt, B. H.: Gott ist das vollkommene Sein. Die Schöpfung ist nur Ausdruck dieses Seins. Der Ausdruck eines Seins kann niemals identisch sein mit diesem Sein, aus dem er hervortritt. Er ist nicht einmal ein Bruchteil dieses Seins, sondern nur dessen partielle Mitteilung, so wie das Wort, das Seufzen, das Lachen des Menschen kein Bruchteil seiner selbst ist, sondern ausgeatmeter Allgemeinbesitz, nämlich Luft. Wenn Gott auch das ewige und vollkommene Sein bedeutet, so ist sein Ausdruck, die Schöpfung, in hohem Grade unvollkommen, das heißt minderwertiger als er selbst, und zwar notwendigerweise. Die genaue Differenz zwischen dem vollkommenen unendlichen Sein und dem von diesem ausgedrückten endlichen unvollkommenen Sein ist das, was man das ›Übel‹ in der Welt oder auch das ›Böse‹ nennt … Erkennst du deine Philosophie wieder, alter Freund? Sie muß auf mich einen großen Eindruck gemacht haben, daß sie mir mehr als hunderttausend Jahre im Gedächtnis geblieben ist …«
    »Wenn man sehr jung ist«, sagte B. H. verschämt und abwehrend, »so neigt man oft zu hohen Gedanken und generösen Verallgemeinerungen.«
    »Tu dir nicht selbst Unrecht«, eiferte ich. »Das Übel in der Welt als Stromgefälle, als Potentialunterschied zwischen dem vollkommenen primären Sein und dem ausgedrückten sekundären Sein, das ist schon ein philosophischer Fund und eine patente Formel in der größten Streitfrage aller Zeiten, und dir gebührt mein Preisspruch, obwohl dich die Kirche für diese Lehre, die den Sündenfall teilweise Gott als notwendige Folge des Schöpfungsaktes zur Last legt, erbarmungslos zum Ketzer gestempelt hätte. Aber du bist noch weiter gegangen. Was du nämlich vor einigen Minuten gesagt hast, das hast du bereits damals gesagt, ja, damals: ›Gott korrigiert sich selbst.‹ Ich hab noch deine Stimme im Ohr, wie du das improvisiertest: ›Ein Teil der göttlichen Lebenstätigkeit ist Korrigieren, am Ausdruck Feilen‹ …«
    »Da siehst du, wie jugendlich anthropomorph derlei Ideen sind«, warf B. H. dazwischen. »Gott, der seine Aufgaben korrigiert wie ein Schulknabe oder ein ehrgeiziger Literat?«
    »Aber diesen Satz hast du doch selbst vorhin ausgesprochen, und zwar mit vollen hundertundsieben Jahren. Das ist wohl auch heute nicht mehr ganz so jugendlich. Und dieser Satz, lieber B. H., umschließt implicite die Aussage, daß du Natur- und Menschheitsgeschichte als eine Geschichte des göttlichen Korrigierens definierst … Wenn wir keine Atheisten sein wollen, so müssen wir doch zugeben, daß ein höherer, logischer und zielstrebiger Wille unsern allzu langen Darm verkürzt und unser plump vermischtes Geschlechtsorgan verfeinert und veredelt hat …«
    Auch B. H. hatte sich nun in einen der niedrigen Bordstühle bequem ausgestreckt. Das Wort »Stühle« ist eine Irreführung, da man ja auf diesen Möbeln lag und nicht etwa »in gebrochener Linie« saß. Nur der Rücken war höher gestützt als auf den gewöhnlichen Ruhelagern mit ihren Schlummerrollen. Ich hatte ein wenig expansiv, ja erregt gesprochen, da mich die guten Dienste meines Gedächtnisses erfreuten. B. H. suchte mich zu beruhigen. Ich spürte ihm eine gewisse Besorgnis an.
    »Es ist ja imposant, F. W.«, seufzte er, »wie du dich jener alten Philosopheme erinnerst,

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