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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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die wir während der endlosen Nachmittage unserer Jugend ausgesponnen haben. (Bei mir ist es freilich eine Jugend unter vielen andern Jugenden gewesen, das mußt du im Sinne behalten.) Trotzdem aber glaube ich, daß ich mich mit dem Hersagen eines deiner Poeme revanchieren könnte. Willst du es hören?«
    »Um Gotteswillen, nein, B. H.«, wehrte ich ab. »Es ist sehr lieb von dir, aber irgendein Vers könnte mir auf die Nerven gehn und meine unvergängliche Reue hervorrufen. Du weißt ja, daß die ästhetische Reue nicht viel weniger wehtut als die moralische. Dabei weiß ich genau, daß einige meiner Gedichte, der Ausdruck meines Seins, besser sind als dieses Sein, das heißt ich selbst, gerade umgekehrt wie bei Gott.«
    B. H. räusperte sich, ehe er mich unvermittelt fragte:
    »Fühlst du dich wohl in deinem Sein, in deinem alten Körper, F. W.?«
    »Vollkommen«, erwiderte ich, »das heißt, schon seit Stunden brennt mir jeder Muskel von unbeschreiblicher Abgespanntheit.«
    »Da siehst du es, mein Lieber«, nickte er, »du darfst nicht vergessen, daß nur der geistige Willensakt eines bestimmten Kreises von Personen dich und deinen Körper aus den verborgenen Fonds der Materie, aus den geheimen Garderoben der Unsichtbarkeit wiederhergestellt und ins Leben gerufen hat. Du darfst mit deinem Körper nicht umgehen wie wir’s mit zwanzig Jahren gewöhnt waren. Du mußt ihn schonen, zärtlich schonen. Anstatt dessen aber bist du erregt und übernimmst dich. Ich schlage vor, daß du eine Weile den Mund hältst …«
    »Gut, laß uns beide den Mund halten.«
    Ich seufzte tief auf. Ich konnte bis auf den Grund atmen. Ein gutes Zeichen für meinen erneuerten Körper. Dann blickte ich im Zimmer umher. Io-Rasa, in der freundlichen Absicht, mir’s altmodisch gemütlich zu machen, hatte keine der erhabenen Naturbeleuchtungen eingeschaltet, nicht Mondzauber noch golddurchtropftes Waldesdunkel noch spielendes Meeressilber noch Schneeschmelze im wolkigen Vorfrühling – all das, was es oberhalb der Erde nicht mehr zu geben schien –, sondern sie hatte zwei matte Milchglaslampen auf einen niedern Tisch gestellt, die am ehesten die Stimmung »Studierzimmerlicht« erzeugten. Ich richtete meine Augen auf die leeren Wände, neugierig, ob ich imstande sein würde, eine visionäre Tapete aus mir zu projizieren wie im Brautgemach. Nichts. Vermutlich war meine Erschöpfung zu groß. Jetzt erst bemerkte ich, daß ein Fenster in die Wand geschnitten war, dessen Flügel nach innen offenstanden. Ohne Zweifel hatte man um des falschen Fensters willen dieses Zimmer mir angewiesen, damit ich hier mich recht heimisch fühle. Und wirklich, es kam mir so vor, als luge die pechschwarze Grizzlybärin einer großen Sierra- oder Karpatennacht in dieses Fenster. Ein angenehmer Hauch von ozonreicher Bergluft strich mir übers Gesicht. Was will man mehr, dachte es wohlig in mir. Da hörte ich B. H. sagen:
    »Wie wär’s nun mit einer kleinen Barkarole?«
    »Was für einer Barkarole?« fragte ich mißtrauisch.
    »Was kann das für eine Barkarole sein? Ein bißchen Schlaf im Sechsachteltakt, meine ich, würde uns wohltun. Willst du’s nicht versuchen?«
    Schreckdurchdonnert fuhr ich hoch und sprang auf die Beine:
    »Schlaf? Ausgeschlossen, B. H., ganz und gar ausgeschlossen. Nie mehr werde ich einen Schlaf riskieren, nie mehr darf ich es wagen einzuschlafen.«
    Erschrocken über meine wilde Reaktion, erhob sich auch B. H.:
    »Was ist los mit dir, F. W.? … Warum kannst du es niemals mehr wagen einzuschlafen?«
    Mein Herz schlug mir in den Hals. Ich schnappte nach Worten:
    »Muß ich dir das erst erklären? Verstehst du es nicht aus dir selbst?«
    »Nein, F. W., jetzt bist du mir vollkommen unverständlich.«
    »Mein Herr und Gott«, stöhnte ich, »hättest du’s nur vorher bedacht, ehe du mich in diese Lage brachtest, die nicht einmal dir verständlich sein kann.«
    Er nahm mich bei der Hand und drückte mich sanft aufs Lager nieder:
    »Beruhige dich doch, lieber Freund«, bat er inständig. »Ich will alles für dich tun, was möglich und auch was unmöglich ist. Warum fürchtest du dich aber einzuschlafen? Jeder normale Mensch schläft und muß schlafen …«
    Es dauerte eine ganze Weile, ehe die Worte, die sich in meinem Munde überstürzten, für mich selbst hörbar wurden:
    »Ja, der normale Mensch, ich weiß. Wenn der normale Mensch einschläft, versinkt er in seinem Körper, taucht er unter in seinem vegetativen Fundament. Sag

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