Stern ohne Himmel
nicht die persönliche Gefahr, die ihn zwangsläufig durch Abiram mit Dressler verband, sondern es waren Argwohn und das Misstrauen.
Ruth und Kimmich kamen zum Stadttor.
»Großvater!«, sagte Ruth und schüttelte Kimmich aus seinen Gedanken. »Du gehst die Treppe zum rechten Turm hinauf, ich auf die andere Seite.«
Ruth wartete, bis sie den Großvater im gegenüberliegenden Turm hörte.
Plötzlich vernahm sie ein knisterndes Geräusch. Ruth sprang zurück und lief durch den Torbogen.
Da musste es sein. Eine Gestalt huschte vorüber. Abiram! Aber ehe sie auf ihn zugehen konnte, war er im Dunkel verschwunden. Der winklige Schatten des Tores zog sich weit über die Schutthaufen hin.
Rufen konnte gefährlich sein. Sie hob die Hände zum Mund und ließ den Käuzchenruf ertönen. Wenn es Abiram war, musste er jetzt aus den Schatten zu ihr kommen. Endlich sah sie, wie er sich vorsichtig von dem viereckigen Grau der Stadtmauer löste. Ruth lief mit ausgestreckten Händen auf ihn zu: »Abiram, Abiram, nicht weglaufen! Ich bin es, Ruth! Großvater und ich sind hier, um dir zu helfen. Komm her!« Sie zerrte ihn aus dem Schatten in das fade Mondlicht.
Da erkannte sie Willi.
Willi lachte heimtückisch.
»Vielen Dank, Ruth!«
»Willi«, schrie sie, aber er war schon längst verschwunden und sie taumelte schluchzend Kimmich entgegen.
»Ich hab Schuld! Ich habe ihn wieder verraten und dich auch.«
»Wer war das eben?«
»Willi.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich hab ihn nicht erkannt. Ich dachte, es wäre Abiram, und ich rief: Abiram, komm her, der Großvater und ich wollen dir helfen.«
Kimmich nickte, als wenn er das alles schon gewusst hätte.
»Es haben alle Fehler gemacht, nicht bloß du, Ruth.«
Sie gingen in die Stadt zurück. Im Osten setzte Geschützfeuer ein. Die Stille der Nacht war vorbei.
Aufrecht stand Willi Jähde gegenüber und löste sein Ehrenwort als Hitlerjunge ein. Vom Ernst des Augenblicks ergriffen, berichtete er, ohne auf die geringste Einzelheit zu verzichten, den Ablauf von Abirams Erscheinen, über dessen Flucht, bis zu Ruths Verhalten.
Jähde, der Willi mit wachsendem Interesse zuhörte, hatte den Bericht nur einmal unterbrochen. »Was, sagst du, ein Jude?«
Willi hatte Abirams Alter nicht angegeben. Alle Juden waren Volksschädlinge, egal, welchen Alters sie waren. War es nicht besser, sie wurden beiseite geschafft, bevor sie erwachsen waren und das deutsche Volk verdarben?
Jähde sah in Willis Bericht seinen Verdacht auf Spionage bestätigt. Der Kommunist Dressler, der Pazifist Kimmich und der Jude im Uniformrock. Die Kinder hatte man als Nachrichtenträger verwandt, um so dem Zugriff der Gestapo zu entgehen. Jähde erkannte das Ausmaß der Verschwörung. Hier war der Grund zu suchen, wieso die russische Front so weit vor die Tore der Stadt dringen konnte. Durch den Verrat dieses Dreiecks war es gelungen, dass die Wunderwaffen nicht zum Einsatz kamen, dass die versprochene Panzerdivision fern blieb und somit Stadt und Volk dem Untergang zugeführt werden sollten. Jähde erkannte, dass es jetzt an ihm lag, die Stadt zu retten.
Er legte Willi die Hand auf die Schulter und seine Stimme war bewegt.
»Du hast Führer und Vaterland einen großen Dienst erwiesen. Ich bereue es nicht, dir mein Vertrauen geschenkt zu haben!«
Willis Gesicht rötete sich vor Stolz. »Danke, Herr Rektor!«
»So, und nun geh. Ich werde die weiteren Dinge veranlassen!«
An der Tür holte ihn Jähde noch einmal zurück.
»Im Übrigen, kein Wort zu den anderen Jungens, verstanden?«
»Jawohl!«
»Du stehst dafür gerade, dass nicht neuer Unsinn passiert! Nachdem du dich so bewährt hast, möchte ich dir die Bewachung deiner ehemaligen Freunde überlassen.« Jähde lächelte viel sagend. »Ich nehme an, das wird dir nicht schwer fallen!«
»Nein, Herr Rektor!« Willi knallte die Hacken zusammen.
Jähde ging sogleich zu Kreisleiter Hoffmann, um ihn von der Wichtigkeit seiner Entdeckung zu überzeugen. Als Jähde vergeblich auf den Klingelknopf der Hoffmann’schen Dienstwohnung drückte, ahnte er nicht, was sich da hinter verschlossenen Türen abspielte.
Es war ein sehr kurzes Telefongespräch gewesen, das Kreisleiter Hoffmann am Nachmittag geführt hatte. Dann gab er dem Ortsgruppenleiter einige Informationen. Stundenlang verbrannte er in seinem Büro Unterlagen. Danach hatte Kreisleiter Hoffmann zu packen begonnen und dann fuhr er im Dienstwagen zum Lager und ließ Tank sowie Reservetank bis zum Rand
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