Stern ohne Himmel
die wissen wollen, wieso ein Mann wie Hitler an die Macht kommen konnte, warum Juden in Deutschland vernichtet wurden, was die Hitler-Jugend tat, warum man nicht gegen, sondern für den Krieg kämpfte.
Das alles waren Überlegungen, die mir damals keine Ruhe ließen. Ich schrieb »Stern ohne Himmel« nicht, um anzuklagen, Buhmänner, Mörder und politische Verbrecher zu beschreiben, sondern um Erklärungen für das Verhalten einer Generation zu finden, die heute selber Kinder im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren hat. Die unselige Schwarz-Weiß-Malerei machte mich ärgerlich. Es gab nur Nazis oder Antifaschisten, der deutsche Bürger zog es vor, den Mund zu halten. Ängste, Rechtfertigungszwänge, Anpassungswille mit der Hoffnung auf eine gesicherte Existenz knüpften wiederum ein Netz von Lügen, mit dessen Hilfe man glaubte, nicht in den Dreck zu fallen. Schweigsam und verbissen turnte man aufwärts, hörte nichts, sah nichts und redete vor allem nichts.
Die Geschichte der fünf Jugendlichen in »Stern ohne Himmel« wurde mir erzählt, irgendwann einmal in Berlin in einer kaputten Wohnung; wir tranken Wodka dabei und ließen uns die Geschichte immer wieder erzählen, weil sie wahr war.
Frank Bayer (Regisseur in der DDR und Verfilmer von Jurek Beckers »Jakob der Lügner«) und ich wollten ursprünglich einen Film daraus machen. Leider konnten wir das Projekt bei der DEFA nicht unterbringen. Und so wurde aus der Geschichte ein Roman. Später geriet »Stern ohne Himmel« in Vergessenheit, auch für mich.
Anfang 1978 sah ich einen Fernsehfilm. Redakteure fragten Schüler in verschiedenen Städten der Bundesrepublik, was sie von der Einrichtung eines Hitler-Museums hielten. Die Antworten waren ernsthaft, so ernsthaft, dass es peinlich war. Auch als die Schüler darüber aufgeklärt wurden, dass es sich um eine Fangfrage handelte, blieb die Sache peinlich. Keiner der Schüler wurde über die Zumutung der Frage zornig, obwohl die Redakteure der Sendung sicherlich damit gerechnet hatten.
Ich fragte mich erneut, warum so viele Eltern immer noch nicht in der Lage sind, von ihren Zwängen, von ihrem aberwitzigen Gehorsam und dem nicht vorhandenen Eigenleben in ihrer Jugend zu erzählen. Falsche Scham verdrängt alle Gespräche, lässt Fragen unbeantwortet. Übrig bleibt nicht selten die Forderung nach einem abermaligen »blinden Gehorsam«.
Ich sprach mit meiner Lektorin darüber. Wir überlegten, ob die plötzlich hereinbrechende Flut von Büchern und Filmen zum Thema Hitler und Drittes Reich geeignet seien, den Jugendlichen ein Verständnis vom menschlichen Verhalten, Fehlverhalten und Reaktionsvermögen dieser Zeit zu vermitteln. Wir überlegten auch, ob diese Bücher die Diskussion der Jugendlichen mit ihren Eltern über deren Vergangenheit beleben können. Nichts anderes wollte ich damals und nichts anderes möchte ich heute mit diesem Roman.
»Stern ohne Himmel« ist geprägt in Stil und Handlung von meinem unmittelbaren Erinnern und Berührtsein durch meine Kriegserlebnisse. Die Situation war, als ich diesen Roman schrieb, für mich noch hautnah. Ich kannte den Glauben an den Nationalsozialismus, ich kannte die Ordnung und den Gehorsam, mit dem man sich die Erwachsenenwelt erobern musste, und ich hatte gelernt, dass das staatlich verordnete Gedankengut meiner Nation unantastbar zu sein hatte. Heute wäre mir diese Art von Einfühlungsvermögen nicht mehr möglich. Die eigenen Lernprozesse, meine politische Entwicklung in der Bundesrepublik würden mich in der genauen Berichterstattung über das Verhalten der Jugendlichen im Dritten Reich hindern, automatisch würden Thema und Story des Romans durch den Filter der Erfahrungen laufen, und nichts wäre von dem tatsächlichen Denken und Handeln, den Hoffnungen, Ängsten und dem Mut dieser Zeit übrig geblieben, die in »Stern ohne Himmel« für mich so wichtig sind. Der Roman ist gegenüber der seinerzeit in der DDR erschienenen Fassung gekürzt und überarbeitet, aber das Charakteristikum der Betroffenheit ist geblieben.
Leonie Ossowski
März 1978
Leonie Ossowski
Leonie Ossowski, geboren 1925 im damaligen Niederschlesien und heutigen Westpolen, veröffentlichte Drehbücher, Theaterstücke, Dokumentationen, Erzählungen und Romane, sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene. Bei Beltz & Gelberg erschien auch ihr erster Jugendroman Die große Flatter , für den sie den Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg erhielt.
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