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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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Werk des Verrats vollendet hatte?
    »Bring mir den Juden her!«, brüllte er Willi an. »Los, bring ihn her!« Seine Finger umkrallten die Vollmacht.
    Die oberen Flure des Alumnates hatten sich geleert. Während Willi die Treppen hinuntereilte, um Abiram zu finden, lief Jähde oben von Tür zu Tür.
    »Den Juden her, dieses Schwein!«, schrie er.

Das alte Kornhaus hatte einen Volltreffer bekommen. Das wuchtig geschwungene Walmdach war wie von Riesenhänden eingedrückt. Gelblichgraue Staubwolken wälzten sich über den Markt.
    Willi rieb sich die Augen. Der Husten ließ ihn kaum Luft holen. Er tastete sich vorwärts, wollte zur Krypta. Dort mussten die Jungen mit Abiram sein. Willi stolperte, fiel und schlug sich das Gesicht auf.
    Ich muss ihn finden, dachte er, ich hab es versprochen!
    An der Gasse, die zum Kirchplatz einbog, sah er Antek und Ruth. Da konnte auch der Jude nicht weit sein. Er holte die beiden ein. An der Kirche drängten sich die Menschen. Kimmich sah Willi hinter Ruth und Antek auftauchen.
    »Habt ihr ihn geholt?«, fragte Kimmich.
    »Wir?«
    Jetzt erst sah Antek Willi hinter sich stehen.
    »Nein«, Antek schüttelte den Kopf, »den würde ich nie holen. Soll er sehen, wo er bleibt!«
    Kimmich hörte nicht auf Anteks Worte. Er wollte Willi mit in die Krypta nehmen.
    »Komm, Junge«, sagte er.
    Aber Willi wich ihm aus, als widere ihn die Berührung des alten Mannes an. »Wo ist Abiram?«, schrie er.
    Die Menschen drängten sich immer dichter. Willi hatte alle Mühe, nicht in den Sog zu kommen, der ihn mit den anderen in die Kirche trieb.
    »Er ist bei mir!«, schrie Kimmich zurück. Das Schießen hatte abermals begonnen. »Sei vernünftig und komm mit in den Keller!«
    Willi ruderte mit den Armen, um sich gegen den Menschenstrom zu wehren. Nie würde er sich in der Kirche verstecken, während Jähde auf seine Meldung wartete. Er musste zurück, damit Jähde den Juden und Kimmich aus der Krypta holen konnte.
    Die Kugeln peitschten über die Straße. Irgendwo schrien Männer. Vereinzelte Soldaten sprangen in die Kellerfenster eines Hauses. Willi kroch unter einem umgekippten Wagen hervor, unter dem er Deckung genommen hatte. In gebückter Haltung, wie er es eben bei den Soldaten gesehen hatte, raste er die Straße entlang.
    Plötzlich hielt ihn jemand fest. Er sah in das bärtige Gesicht eines alten Mannes in Zivil. Er hatte ein Gewehr in der Hand und eine Hakenkreuzbinde um den Arm. Er gehörte zum Volkssturm.
    »Wo willst du hin, Junge?«
    »Meldung machen!«
    »Dem Iwan?«
    Willi schlug dem alten Mann in den Magen, dass der fluchend losließ.
    Willi musste nur noch über den Marktplatz. Plötzlich bekam er Angst. Der Marktplatz war ihm noch nie so groß vorgekommen. Sollte er auch in einen Keller kriechen? Willi ballte die Fäuste und kroch auf allen vieren los über den Platz.
    Ein sausender Schmerz fuhr ihm in den Rücken, der sich über den ganzen Körper ausbreitete und sofort wieder verging. Eine seltsame Stille breitete sich um Willi aus. Er verstand nicht, warum er die Einschüsse rund um sich sah, aber nicht hörte.
    Jähde kam aus dem Alumnat, wurde größer und größer. Die Gewehrschüsse prallten wie Bälle an seiner Brust ab und seine braunen Uniformstiefel glänzten in tausend Sonnen.
    »Der Jude ist in der Krypta«, sagte Willi, aber er spürte nur, wie er sprach, hören konnte er nichts.
    Jähde kam mit der Pistole in der Hand aus dem Haus. In den Straßen lagen tote Männer und Frauen, die den Keller nicht mehr rechtzeitig erreicht hatten. Zwischen Schüssen und Granatexplosionen schrie ein Kind. Nagold lief vom Kornhaus her über den Markt. Sein Gesicht war völlig verdreckt. Er winkte. Jähde überlegte, ob Nagold sich am Ende doch noch auf seine Pflicht als Nationalsozialist besonnen hätte.
    »Haben Sie den Juden erledigt?«
    Nagold sah Jähde an, als ob der den Verstand verloren hätte.
    »Willi ist tot!«, sagte Nagold.
    Jähde antwortete nicht.
    Gewehrschüsse trieben beide in den Hauseingang zurück.
    »Willi ist tot!«, sagte Nagold abermals.
    Jähde fuhr wütend herum. »Bin ich dafür verantwortlich? Was machen Sie überhaupt hier?«
    »Ich habe die Kinder gesucht.«
    »Und«, fragte Jähde spöttisch zurück, »haben Sie sie gefunden?«
    »Ja, Kimmich hat sie mit in die Krypta genommen. Den Juden auch.«
    »Was?« Jähde hob seine Pistole.
    Nagold war schneller. Im hohen Bogen flog die Waffe über beide hinweg auf die Straße.
    An den gegenüberliegenden Häuserreihen

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